Die Geschichten sind häufig gleich. Im Sommer sitzt Orhan Aydin oft stundenlang vor den Stufen einer typischen Mietskaserne in Berlin-Moabit und wartet. Ein- bis zweimal am Tag kommen Bekannte vorbei. Menschen, die er aus der benachbarten Moschee kennt, oder Gesichter, die er manchmal beim Einkaufen trifft. Man tauscht Höflichkeiten aus. Manchmal erzählt man Geschichten. "Es ist immer das Gleiche", sagt sein Sohn Faruk. Es geht um die Kinder, die ersten Alterszipperlein, das Wetter. Er könne das schon nicht mehr hören.
Faruk ist 26 und schreibt gerade sein erstes juristisches Staatsexamen. Eigentlich wollte er nach dem Grundstudium Berlin verlassen. Er ist geblieben. Des Vaters wegen. "Mit wem soll der alte Mann denn sonst reden?", fragt Faruk. Die meisten Menschen verstehen ihn hier nicht. Orhan Aydin lebt allein. Seine Frau ist vor drei Jahren gestorben. Krebs. Jetzt gibt es nur noch den Sohn. Auf den, so sagt Orhan Aydin immer wieder, sei er ungemein stolz. Er selbst ist vor über 30 Jahren als so genannter Gastarbeiter aus der Türkei in die Bundesrepublik gekommen. Er hat geschuftet, unermüdlich. Erst im Bergbau in der Nähe von Essen. Später, als die Jobs im Revier knapp wurden, ist er mit seiner Familie nach Berlin gezogen. Sein Sohn, das weiß er, wird es einmal besser haben.
Wie Orhan Aydin geht es vielen. Auf den ersten Blick ist das nicht mehr als eine typische Geschichte aus einem deutschen Kleinbürgermilieu, allerdings ohne dass er besonders gut deutsch spricht. Als er vor Jahren in seine zweite Heimat kam, hat man ihm in der Fabrik lediglich ein kleines Wörterbuch in die Hand gedrückt. In diesem war nicht mehr als der Grundwortschatz für die notdürftige Verständigung am Arbeitsplatz: "Förderschacht", "Flöz", "Mein Name ist". Jetzt, wo er im Ruhestand ist, fehlt es ihm am Willen, an seinen Sprachlücken noch etwas zu ändern.
Eine halbe Million einstiger Arbeitsemigranten aus Südeuropa und der Türkei sind mittlerweile über 60 Jahre alt. Bis zum Jahr 2010 wird sich ihre Zahl verdoppeln. Hatte man sie viele Jahre lediglich als willkommene Arbeitskräfte für die Lösung eigener ökonomischer Probleme gesehen, so dämmerte den politisch Handelnden später, dass mit den Arbeitskräften Menschen kamen. Menschen wie Orhan Aydin - mit sozialen Bedürfnissen, privaten Geschichten, menschlichen Schwierigkeiten.
Anfangs war das Problem der alternden Migranten nicht wirklich ersichtlich. Viele, die kamen, wollten in Deutschland lediglich Geld verdienen und später in die Heimatländer zurückkehren. Über die Jahre aber hatten sie begonnen, eine zweite Heimatidentität in der Bundesrepublik zu entwickeln. Bereits 1986 gaben laut einer Umfrage des Zentrums für Türkeistudien 61,5 Prozent der Türken an, nicht mehr in das Herkunftsland zurück zu wollen. Sechs Jahre später stieg ihre Zahl auf 83 Prozent. Ein Trend, der sich auch in den Folgejahren weiter verfestigte.
Seit 2001 indes nimmt die Zahl der Rückkehrwilligen wieder zu. Und dies nicht zuletzt deshalb, weil man sich in Deutschland lange Jahre keinerlei Gedanken über Integration und menschliche Fürsorge gemacht hatte. Dass die Arbeitskräfte von einst eines Tages altern und somit keinen direkten ökonomischen Mehrwert mehr schaffen könnten, lag außerhalb gängiger Vorstellungen.
Gerade für die in Deutschland lebenden Türken, die in dieser Gesellschaft alt geworden sind, bieten sich letztlich wenig Möglichkeiten, einen ihrer Kultur und ihren individuellen Bedürfnissen entsprechenden Lebensabend zu verbringen. Was die Aufnahmegesellschaft lange ignorierte, war unter den Deutsch-Türken eine am Horizont sichtbare Herausforderung. Bereits 1993 schrieb die Schriftstellerin Renan Demirkan - selbst mit ihren Eltern einst aus Ankara nach Deutschland gekommen: "Wirklich tragisch ist die Zerrissenheit und Verzweiflung meiner Eltern-Generation. Sie weiß nicht, wo sie sterben soll. Sie ist hier immer noch in einer geduldeten Situation, immer noch der Kassenzettel, mittlerweile vergilbt, unbrauchbar. Seelisch obdachlos."
In der Regel altern diese Menschen nicht anders als deutsche Rentnerinnen und Rentner auch. Das Klischee vom starken Familienverband innerhalb mediterraner Kulturen ist oft nicht mehr als eben ein solches. Und so verbringen die einstigen "Gastarbeiter" oftmals ihren Ruhestand unter vereinsamten und unwirtlichen Bedingungen. Hinzu kommt, wie auch die Geschichte von Orhan Aydin zeigt, eine immer noch vorhandene sprachliche Barriere.
Eine kultursensible Altenpflege ist dennoch in weiten Teilen nicht in Sicht. Vorreiter, wie das Duisburger Haus am Sandberg, in dem man in der Trägerschaft des Roten Kreuzes versucht, Muslime wie Nicht-Muslime in der Gestaltung eines würdigen Lebensabend zu unterstützen, bleiben in Deutschland bis dato die Ausnahme. In solchen Häusern versucht man, Rück-sicht auf individuelle wie kulturelle Besonderheiten zu nehmen. Und die reichen von der Einhaltung der islamischen Speisevorschriften, der Pflege eigener Riten und Bräuche bis zur Möglichkeit, am islamischen Freitagsgebet teilzunehmen. In Duisburg hat man die Herausforderung ernst genommen. Es gibt einen Gebetsraum für Muslime, Betreuung in türkischer Sprache und die Bereitschaft, den oft fremdartigen Lebensgeschichten zuzuhören.
Noch macht sich Faruk Aydin wenig Gedanken darüber, was einmal sein wird, wenn sein Vater auf fremde Pflege angewiesen sein sollte. Noch funktioniert ein nie getroffenes Abkommen zwischen den beiden Männern: Faruk wird in seiner Lebensplanung weiterhin Rücksicht nehmen auf den Vater, wird in Berlin bleiben und wird sich weiterhin die Zeit nehmen, um den längst bekannten Geschichten des alten Mannes zu lauschen. Ein "normales" Altenheim? Faruk schüttelt den Kopf. Dafür hat er seinem Vater zu viel zu verdanken. Dafür ist er zu stolz auf dessen Geschichte.