Die Älteren haben einen eigenen Trakt, der durch eine Tür von dem Gemeinschaftsflur getrennt ist. Hinter dieser Tür liegen jeweils vier Einzimmerappartements wie das von Mareike Luchter, die eine gemeinsame Loggia teilen - so bewahren die Bewohner zwar ihre Eigenständigkeit, sind aber gleichzeitig eng miteinander verbunden. Dieses genau ausbalancierte Wohngeflecht aus alt und jung, Selbstständigkeit und Miteinander ist ein kommunales Projekt und nennt sich Generationen übergreifendes Wohnen, eine Nachbarschaft also, in der die Anwohner sich gegenseitig helfen: Wenn auf jeder Etage eine Altengemeinschaft neben jungen Familien wohnen, dann, so die Idee, sollen die Alten den Jungen, die Jungen den Alten helfen. Eine freiwillige Solidargemeinschaft, in der die Hilfe nicht gesetzlich geregelt ist und auch nicht der Staat daherkommt, wenn einer den Termin verpatzt, an dem er den Rentner von nebenan zum Arzt fahren sollte. Die Alten können die Kinder hüten, die Jungen machen Besorgungen. Eine bezahlbare Alternative zum Greisenghetto Altersheim oder mobilen Pflegediensten? Eine Alternative, die das Problem des Wohnens im Alter auffangen wird, das auf das vergreisende Land zukommen wird?
Vielleicht ist es die letzte wichtige Entscheidung, die der Mensch treffen muss: Wie möchte ich leben im Alter? Mareike Luchter hat sie sich vor der Zeit entschieden. 50 war sie damals, als sie ihre Arbeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin in einem soziologischen Institut verlor. 50, arbeitslos und fast ohne Familie - zu der einzigen Tochter hatte sie damals wenig Kontakt. Damit befand sie sich in einer Situation, in der sich wegen der sinkenden Kinderzahl viele künftige Senioren befinden werden, die nämlich nicht auf das heute noch verbreitete Modell der häuslichen Pflege durch Angehörige oder ein Generationen übergreifendes Wohnen auf familiärer Basis verlassen können. Ein Altenheim oder professionelle, mobile Pflegedienste, das waren für Mareike Luchter nie Alternativen. "Furchtbar", sagt sie, "diese Zeittaktpflege, da hat man dann neun Minuten für einen Menschen". Und bis sie einmal wirklich pflegebedürftig sei, da seien die Takte doch noch kürzer. Für die Soziologin ist das eine ausgemachte Sache, denn "der Sozialstaat bröckelt, da müssen wir für uns selber sorgen." Die Möglichkeit des Service-Wohnens, also in ein Haus zu ziehen, in dem Einkaufs-, Wäsche- und Pflegedienste gegen Aufpreis angeboten werden, konnte sie sich nicht leisten. Also hat sie sich für das Projekt "Gemeinschaftlich Wohnen - Gemeinsam Altwerden" (GWA) entschieden, das erste Projekte für Wohnen im Alter in Berlin. Seit acht Jahren wohnt die heute 60-jährige Mareike Luchter nun schon im "Bunten Haus". Acht Jahre, in denen sich Hoffnungen erfüllt und andere zerschlagen haben.
Mareike Luchter spricht von Umzug. Davon, dass sie aufs Land zurück will, um ihre Mutter zu pflegen: "Im Alter wird die Familie eben wichtiger." Einerseits. Andererseits sagt sie aber auch, dass Wohnverwandtschaften besser sind als die echten, denn die könne man sich schließlich nicht aussuchen. Am Ende birgt wohl beides Probleme, es sind nur andere. Nun wirkt Mareike Luchter nicht wie eine Frau, die den Problemen ausweicht. Von dem Klischee Bus fahrender Rentner in Freizeitjacken und Kreppsohlen ist sie weit entfernt. Mit dem kurzen, braunen Zopf, der großen Halbedelsteinkette und dem braunen Pullover sieht sie jünger aus, zumal sie schnell denkt und redet. Damals, als sich für das Projekt GWA, die Frauen zusammen fanden - Männer hatten kein Interesse an dieser Wohnform - war ihr wichtig, "dass die anderen etwas mitbringen, was ich noch nicht kannte". Fünf Jahre hatte es gedauert, bis sich die 15 Anfangsbewohnerinnen im Alter von 50 bis 70 gefunden hatten. Viele waren in einer ähnlichen Situation wie Mareike Luchter, hatten kaum Familie, wenig Geld und die Bereitschaft, sich in ein Experiment zu wagen. Jede von ihnen zog in ein Einzimmerappartement. Direkt nach dem Einzug wurden die Frauen ernsthaft auf die Probe gestellt.
Die Möbelwagen waren kaum um die Ecke, da erlitt eine der Projektfrauen einen Schlaganfall. Nicht nur, dass diese Frau pflegebedürftig war. Weil sich herausstellte, dass sie zuviel getrunken hatte, brauchte sie auch eine besondere Ernährungsbetreuung. Anfangs hatte Mareike Luchter das "Staffelmodell", wie sie die sich selbst organisierende Solidargemeinschaft nennt, mitgetragen, hatte der Frau vorgelesen und ihr bei Gehversuchen auf dem Flur geholfen. Auch die anderen Frauen kümmerten sich, aber letztlich sei dann doch für die körperliche Pflege ein sozialer Dienst bestellt worden, und als sich der Zustand der Frau verschlechterte, zog sie am Ende aus. "Wir haben das nicht geschafft", gibt Mareike Luchter zu, "das war eine bittere Erfahrung." Damit meint sie auch sich selbst. Sie habe gemerkt, dass sie "in diesen Keller nicht steigen will." Leicht fällt es in der Praxis nicht, sich nah auf einen fremden Menschen einzulassen. Und in dieser Fremdheit sieht Mareike Luchter auch die Bruchstelle zwischen Wunsch und Wirklichkeit: "Man muss den Rucksack von den anderen erst einmal kennen lernen, bevor man ihn mittragen kann." Immerhin: Nachdem die Gruppe zusammen gewachsen war, hat sich das soziale Netzwerk oft als stabil erwiesen. Wenn eine der Frauen mal ins Krankenhaus muss, dann stellen die anderen einen Dienstplan auf, kümmern sich um Einkäufe, das Essen, die Wäsche, die Pflege und die Unterhaltung. Das Projekt soll schließlich nicht nur eine Wohn-, sondern auch eine Lebensgemeinschaft sein.
Deshalb sind die vier Wohnungen auf den einzelnen Etagen auch mit jeweils einer Loggia verbunden. Auf einigen Etagen ist der gläserne Vorraum ein zweites Wohnzimmer, auf anderen ein Durchgangsraum. Einige der Frauen sind eng befreundet, mit anderen ist der Kontakt eher lose. Einmal die Woche treffen sich alle im Gemeinschaftsraum und erzählen in der "Befindlichkeitsrunde", wie es ihnen geht. Der anfängliche Anspruch, alles zusammen zu machen, erzählt Mareike Luchter, habe sich mit der Zeit verflüchtigt.
"Manche Menschen sind im Alter schon festgefahren wie alte Bremsscheiben", sagt Anita Kusmanoff. Die Übersetzerin lebt mit ihrer behinderten Tochter im "Bunten Haus" und sieht das Graue-Wohnprojekt von der Seite der anderen Generation - obwohl sie selber auch schon 60 ist - nämlich als Mutter, die auf Betreuung für ihr Kind angewiesen war. Anfangs hatte der Tauschhandel auch reibungslos funktioniert: Du betreust meine Tochter, ich gehe für dich einkaufen oder fahre dich zum Arzt. Allerdings räumt sie ein, dass sie trotz des sozialen Ansatzes des Projektes viel Eigeninitiative mitbringen musste: "Ich bin auf die Leute mit meinen Angeboten zugegangen." Heute hat sie zu fünf Menschen im "Bunten Haus" eine enge Beziehung, die anderen sind eben Nachbarn - wie in jedem anderen Mietshaus. Und wie in jedem anderen Mietshaus, in dem alte und junge Menschen zusammen leben, gibt es auch Krach: Wenn die Kinder nachmittags auf dem Spielplatz lärmen, fühlt sich eine ältere Bewohnerin im Mittagsschlaf gestört. Und dann war da die betreute WG mit den Mädchen im Alter von 13 bis 15, die jede Menge Verehrer hatten, die jede Menge Kippen in die Gegend und auch mal Urin im Keller ließen. Da sei sie halt zu denen hingegangen und habe mit denen geredet, sagt Anita Kusmanoff, solche Zwischenfälle passierten eben, das sei normal.
Traurig dagegen findet Anita Kusmanoff, "dass sich das Besondere im 'Bunten Haus' entzaubert hat", der Zusammenhalt nicht mehr so da ist. Immer mehr Bewohner leben einfach vor sich hin, ohne nach den Nachbarn rechts und links zu gucken. Woran das liegt? Erst einmal an der Hausverwaltung, sagt Anita Kusmanoff. Denn die habe den später Eingezogenen die besondere Idee des Hauses nicht mehr kommuniziert. Und wenn die komplizierte Balance zwischen Geben und Nehmen, schon bei denen schnell aus dem Gleichgewicht gerät, die sie suchen, dann lässt sie sich bei denen, die sie nicht suchen, oft gar nicht herstellen. Und schlussendlich ist auch ein soziales Projekt denselben Entwicklungsprozessen unterworfen wie jedes Neubauviertel, in das junge Eltern ziehen: Die Kinder sind klein und verbinden. Wenn sie erwachsen werden, schlagen alle eigene Wege ein.
Aber das "Bunte Haus" wäre wohl ein Haus wie jedes andere, wenn einige der Bewohner solchen Entwicklungen nicht auch nach Kräften entgegen steuern würden. "Wir planen jetzt wieder mehr Gemeinschaftsaktionen wie zum Beispiel Sommerfeste", sagt Anita Kusmanoff, aber letztlich dräut auch dabei die Erkenntnis: "Es sind doch immer dieselben, die sich engagieren." Trotzdem glaubt sie daran, dass sich die Menschen nicht anpassen, sondern in der Mitte treffen müssen.
Mit anderen eine Schnittmenge zu finden, darin sieht auch Mareike Luchter den größten Gewinn des grauen Wohnprojektes: "Das miteinander Leben ist die größte Ermutigung selbstständig zu bleiben, denn das größte Problem im Alter ist doch die Einsamkeit." Dass sie ihren Alterswohnsitz nun vorzeitig verlassen wird, hat für sie nichts mit Scheitern zu tun: "Das kommt in den besten Ehen vor." Und sie ist auch nicht die Erste, die noch einmal den Kurs wechselt: Von den 15 Anfangsbewohnerinnen sind noch elf übrig. Wenn die Wohnungen neu belegt werden, dann muss die Gemeinschaft darauf achten, dass jüngere Frauen einziehen. "Eine 75-Jährige kann keine 85-Jährige im Bett umdrehen", sagt Mareike Luchter. Einfach die Alten zusammen zu schmeißen, so einfach ist die Sache mit dem gemeinschaftlichen Altern nicht. Aber trotzdem eine echte Alternative zu Altenheim, Servicewohnen und mobilen Pflegediensten, glaubt Mareike Luchter. Sie ist zu dem Schluss gekommen, dass das Experiment, in dem sie die letzten acht Jahre gelebt hat, ein gelungenes ist.