Eine Insel der Glückseligen ist der Zwei-Städte-Staat an der Weser schon lange nicht mehr. Seit der Werftenkrise der 80er-Jahre ist Bremen außer beim Fußball nur in Dingen Spitze, auf die man gern verzichten würde: In der Arbeitslosenstatistik, auf der Verschuldungsskala und bei den Zuweisungen durch den Bund. Kein Wunder also, dass Bremens Schüler es auch bei den Schulstudien PISA und Iglu zu wenig brachten? Beide bescherten erschütternde Erkenntnisse: PISA identifizierte mehr als jeden dritten Bremer 15-Jährigen als Risikoschüler, der nur einfachste Texte versteht. Iglu legte bloß, dass schon Viertklässler ihren Mitschülern in Baden-Württemberg ein Jahr hinterherhinken. Darauf, dass es nicht ganz so einfach ist, wiesen die Bildungsforscher hin: Allein mit der Zusammensetzung der Schüler ließe sich der Rückstand nicht erklären.
Seither ist man in Bremen mit der Suche nach den Ursachen beschäftigt. Einer der zentralen Aufträge lautet, nicht nur herauszufinden, warum die Schüler so wenig lernen. Es muss auch eine Erklärung für den Umstand her, dass man sich von sozialdemokratischen Bildungsidealen, die man immer so hoch gehalten hatte, nicht weiter hätte entfernen können. In kaum einem Bundesland wird stärker nach Herkunft selektiert: In manchem gut situierten Viertel besucht kein einziger Schüler die Hauptschule, dafür in manchem Arbeiterkiez kaum einer das Gymnasium. So gut wie nirgendwo müssen so viele Kinder die Schulform wechseln oder die Klasse wiederholen.
In diesem Sommer schickte man 20 Experten in 27 Grundschulen, um sich vor Ort ein Bild zu machen. Deren Ergebnisse weisen daraufhin, dass wohl doch nicht vor allem die Schüler an ihrer Misere schuld sind. Die Praktiker fanden einige Schulen mitten in sozialen Brennpunkten, in denen engagierte Lehrer hervorragende Arbeit leisten. Und eine Menge Schulen, denen sie ein trauriges Zeugnis ausstellten: Es mangele nicht an Geld oder Ausstattung, konstatierten die Pädagogen, sondern an "pädagogischem Ethos". In den Lehrerzimmern würde zu wenig kommuniziert, vor allem nicht darüber, wie man Schüler individuell fördert. Das Resultat: Schüler würden entweder über- oder unterfordert. Außerdem attestierten die Experten einen "fatalen Teufelskreis wechselseitiger Schuldzuweisungen" zwischen Lehrern und Behörde.
Perlen gab es aber auch: Eine von ihnen ist die Grundschule am Pfälzer Weg. Sie steht inmitten eines Neubaugebiets, auf das man sich im sozialdemokratischen Bremen einst ebenso viel eingebildet hatte wie auf seine Bildungspolitik - und die als genauso gescheitert betrachtet werden muss. Als urbanes Modellprojekt erdacht, verkam Osterholz-Tenever, von den Bremern "Kleinmanhattan" genannt, zu einem Ort der Massenflucht. Bleiben tut hier nur, wer es muss.
Wer hierher kommt und die Lehrerin Heike Gruben bei ihrer Arbeit beobachtet, fragt sich, was eigentlich das Erstaunlichste an ihr ist. Dass sie erst 31 ist und in jedem Lehrerzimmer den Altersdurchschnitt senkt? Dass von den 23 Kindern nur zwei zuhause deutsch sprechen? Dass sie Erst- und Zweitklässler gemeinsam unterrichtet, die einen also lesen können, die anderen nicht? Oder dass es der jungen Lehrerin gelingt, im Flüsterton zu unterrichten. Wenn sie etwas sagen will, wartet sie einfach, bis die Kinder ruhig sind, notfalls ein paar Minuten. "Hört mal her, ist nicht schwer", wispert sie dann. Das Erstaunlichste an der 31-Jährigen ist aber, dass sie einen Unterricht macht, der alle mitnimmt in die Welt des Lesens und Lernens.
Was man daraus lernt? Es gibt Schulen, an denen große Arbeit geleistet wird, auch unter noch so widrigen Bedingungen. Dass das Verhältnis von Schulen zur Behörde nicht durch Vertrauen getragen sei, sagt auch Maresi Lassek, die stellvertretende Leiterin der Schule am Pfälzer Weg. Statt Beratung bekämen die Schulen ständig wechselnde Anordnungen. Lassek sagt aber auch, dass man sich den Schülern zuliebe auf den Weg gemacht hätte. Hin zu einem Unterricht, der den Einzelnen in den Mittelpunkt stellt. Es geht also doch, obwohl man noch kurz vorher bei einem Besuch der Lehrergewerkschaft GEW vermittelt bekommen hatte, es gehe nicht. Angesichts der Arbeitsbedingungen sei individualisierter Unterricht gar nicht möglich, hatte der Landesvorsitzende Jürgen Burger erklärt. Die Klassen seien zu groß, die Kollegen müssten zu viele Stunden unterrichten - "da ist jede Verbesserung Zukunftsmusik". In der Bildungsbehörde, die nur ein paar Meter entfernt ist, weist man das von sich: "Die meisten Klassen sind kleiner und die Lehrer verdienen mehr als im Bundesdurchschnitt", sagt Cornelia von Ilsemann, die für Qualitätsentwicklung zuständig ist. Sie gesteht aber auch zu, dass die Behörde Fehler gemacht hat. Das System sei lange gleichzeitig "über- wie untersteuert" gewesen.
Nun ist das Desaster komplett, und seit PISA versucht man sich mit vereinten Kräften wieder herauszumanövrieren. Die Wiederherstellung des Vertrauens auf allen Seiten ist dabei vielleicht die zentrale Herausforderung. Seit 1999 ist mit Willi Lemke einer im Amt, der nicht in der Behörden-Maschinerie groß geworden ist. Der Ex-Manager von Werder Bremen gilt zwar nicht als großer Konzepter, aber als einer, auf den man sich verlassen kann. Schon allein dafür, dass er sich von jeder einzelnen Schule ein persönliches Bild gemacht hat, gebührt ihm nach Ansicht vieler Respekt. Und er hat in dem stets unterfinanzierten Stadtstaat zusätzliche 24 Millionen Euro locker gemacht. Das Prinzip der Orientierung an "Best Practice" soll nun in ganz Bremen greifen: Schulen wie die am Pfälzer Weg sollen Besuch bekommen von denen, bei denen es nicht so läuft. Und sich vor Ort ein Bild davon machen, wie man es hinbekommt, dass jeder Schüler mittags etwas davon gehabt hat, morgens aufgestanden zu sein. Damit auch in Bremen eines Tages nicht mehr gilt: Nirgends hat man soviel Integration gewollt - und so wenig bekommen.