Deutsches "Blut-und-Boden-Denken" ist Lale Akgün nicht fremd. Die Bundestagsabgeordnete kam mit neun Jahren aus der Türkei nach Deutschland, machte Abitur, studierte, promovierte, gründete eine Familie. 1981 nahm sie die deutsche Staatsbürgerschaft an und begann Politik zu machen. Seit sie im Jahr 2002 für die SPD in den Bundestag gewählt wurde, bekommt sie stapelweise Post. Weniger von interessierten Bürgern, als von Leuten, für die eine geborene Türkin als Vertreterin deutscher Bürger im Parlament eine Provokation ist. Obszönitäten und Drohungen sind da zu lesen, und nicht selten unterschreiben die Verfasser der bitteren Briefe mit Vor- und Zunamen.
Wenige Monate ist es her, dass 20 Prozent der sächsischen Erstwähler der rechtsextremen NPD, 36 Jahre nach ihrem letzten Wahlerfolg, wieder in einen Landtag verhalfen. Zwölf nationaldemokratische Abgeordnete machen jetzt Politik in Sachsen, und offenbar haben sie Sympathisanten auch außerhalb der eigenen Reihen. Schon zwei Mal stimmten Mitglieder der anderen Koalitionen in wichtigen Wahlen für die "Nationaldemokraten". Zusammen mit DVU und anderen rechtsextremen Parteien bastelt die NPD derweil fleißig an einer "Nationalen Volksfront", einem rechtsextremen Parteienbündnis, dass künftig auch bei Bundestagswahlen punkten soll. NPD-Chef Udo Voigt hat zumindest das Ziel seiner Partei in einem Interview jüngst formuliert: Die Bundesrepublik solle "abgewickelt" werden.
Verfassungsschutz und Bundeskriminalamt beobachten diese Entwicklungen aufmerksam. Über 41.000 Menschen sind laut BKA dem rechtsextremen Spektrum zuzuordnen. 2003 wurden über 10.000 politisch-motivierte Straftaten mit rechtsextremem Hintergrund registriert, 1.200 davon waren Gewalttaten. Untersuchungen zeigen, dass sich Rechtsextremismus vor allem in den neuen Bundesländern als Alltagskultur etablieren konnte. In vielen Kommunen gehört rechtes Gehabe zum guten Ton.
Doch warum treffen nationalistische, rassistische oder antisemitische Gesinnungen besonders bei Jugendlichen auf so fruchtbaren Boden? Wann wird ein Mensch zum Rechtsextremisten, und wie kann man das verhindern? Drei neue Studien haben sich mit diesen Fragen beschäftigt. Im Zuge des Projekts "Strategien gegen Rechtsextremismus", das die Bertelsmann-Stiftung zusammen mit dem Centrum für Angewandte Politikforschung (CAP) am 10. Dezember, dem Tag der Menschenrechte, in Berlin vorstellte, haben Wissenschaftler zwei Jahre lang die Ursachen von Rechtsextremismus untersucht und daraus Handlungsempfehlungen für Politik und Praxis im Umgang mit Fremdenfeindlichkeit und Intoleranz entwickelt. Die Verfasser der Studie kommen zu klaren Befunden. Rechtsextreme Täter sind demnach oft schon als Kinder sozial und psychisch auffällig geworden. Früh begegneten sie Fremden mit Angst und Misstrauen und litten unter einem geringen Selbstwertgefühl. Soziale Kompetenzen, wie Kommunikations- und Konfliktlösungsfähigkeit und die Fähigkeit zu Empathie und Selbstkontrolle waren nur gering ausgeprägt. Es hänge in großem Maße von vorpolitischen Faktoren ab, ob ein Mensch rechtsextreme Einstellung entwickle, sagt Klaus Wahl vom deutschen Jugendinstitut, der für das Projekt die Entwicklungs- und Sozialisationsbedingungen für Toleranz untersucht hat. Nicht zwingend mündeten diese Eigenschaften in den Rechtsextremismus, aber dennoch sei es notwendig, früh, individuell und langfristig der Ausbildung bestimmter Persönlichkeitsstrukturen vorzubeugen. Diese Aufgabe falle primär den Eltern zu, sagt Wahl, doch die sollten damit nicht allein gelassen werden. "Elternbildung" ist also gefragt, und die hält auch Petra Wagner, die Leiterin des Projekts Kinderwelten in Berlin, für bitter nötig: "Das Hilfe- und Schutzsystem der Erwachsenen versagt oft kläglich", sagt sie und stellt fest: "Es sind die Erwachsenen, die ein Hilfeprogramm brauchen."
Doch die Schule ist damit nicht aus der Verantwortung entlassen. Sie sollte, so fassen Ulrike Hormel und Professor Albert Scherr das Ergebnis ihrer Studie zum Thema "Bildung für die Einwanderungsgesellschaft" zusammen, die Heranwachsenden befähigen, sich mit menschenrechtlichen Prinzipien und aktuellen gesellschaftspolitischen Ereignissen auseinanderzusetzen, und zugleich Migranten in Lehrer- und Schülerschaft angemessen repräsentieren. Die Wissenschaftler fordern die "curriculare Verankerung einer Menschenrechtsbildung" in der Schule, eine Lern- und Lehrkultur also, die auf Dialog und Mitbestimmung ausgelegt ist und eine konsequent antirassistische, demokratische Perspektive einnimmt. Die Lehrer müssten lernen, verhaltensauffällige Kinder individuell zu betreuen und die Kritik- und Reflexionsfähigkeit der Schüler zu fördern. Die Vermittlung reinen Faktenwissens sei dafür nicht ausreichend, denn, so machen Scherr und Hormel klar, auf den Nationalsozialismus und Holocaust bezogene historisch-politische Bildung eigne sich nicht "als exemplarischer didaktischer Fall für eine Pädagogik der menschenrechtlichen Sensibilisierung" und sei auch "nicht in der Lage, gegen rechtsextreme Tendenzen zu ?immunisieren'".
Außerhalb Deutschlands hat man das schon länger erkannt. Rassismus und Diskriminierung werden dort als zentrale Herausforderung für das Bildungssystem begriffen, wie die Wissenschaftler bei der Untersuchung der Bildungspolitik und Bildungspraxis in Frankreich, Großbritannien, den USA und Kanada erfahren haben. So gebe es zum Beispiel in Großbritannien Lehrpläne für eine menschenrechtlich verfasste politische Bildung. In Kanada sorgten entsprechende Konzepte für eine gezielte Beteiligung von Minderheiten an der Schulentwicklung. Im aktuellen PISA-Test liegt das Land daher nicht ohne Grund im obersten Drittel des Rankings. Noch wichtiger ist aber, dass der Erfolg kanadischer Schüler - nicht wie in Deutschland - mit deren sozialer Herkunft korreliert.
In der Bundesrepublik ist das Zukunftsmusik. Notwendig wäre eine umfassende Schulreform, welche die Schüler auf die Bedingungen einer Einwanderungsgesellschaft gezielt vorbereitet und Kinder mit Migrationshintergrund vor Benachteiligung und Diskriminierung schützt. Es reiche eben nicht, einfach nur "gegen Rechts" zu sein und öffentlichkeitswirksame Appelle zu starten, erklärt Britta Schellenberg vom CAP in München. Mit dem Projekt "Strategien gegen Rechtsextremismus" habe man daher positive Konzepte erarbeiten wollen, die Familien und meinungsbildenden Institutionen wie Kindergärten, Schulen und Medien zeigen sollen, wie sie präventiv gegen Intoleranz und Fremdenfeindlichkeit vorgehen.
Doch auch die Medien werden ihrer Verantwortung nicht immer gerecht. Das ist das Ergebnis der dritten Teilstudie "Rechtsextremismus und Fernsehen" von der ARD/ZDF-Medienkommission. Zwar wirke das Fernsehen einer positiven Darstellung des Rechtsextremismus entgegen, heißt es, aber nur allzu oft werde sie ersetzt durch eine Strategie der Kriminalisierung und der verschärften mentalen und moralischen Ausgrenzung. "Anstelle von Aufklärung, Ursachenanalyse und politischer Auseinandersetzung neigen die Medien dazu, eine Gefühlskultur gegen Rechts zu etablieren und damit das Extremismusproblem zu entpolitisieren", bemängeln die Verfasser. Eine hintergründige, differenzierte und weniger stereotype Berichterstattung wäre, ihrer Meinung nach, wünschenswert.
So ist Voraussetzung für eine Strategie gegen Rechtsextremismus, dass der nicht als eigenständiges, isoliertes Phänomen begriffen wird, sondern als Problem in der Mitte unserer Gesellschaft, das schon früh durch bestimmte Entwicklungs- und Sozialisationsprozesse beeinflusst werden kann. Den genannten Institutionen fällt dabei eine Schlüsselrolle zu. Sie finden in den vorliegenden Untersuchungen von Bertelsmann- Stiftung und CAP allemal praktische Handlungsempfehlungen für ihren täglichen Umgang mit Kindern und Jugendlichen, die später einmal nicht mit rassistischen Drohbriefen Furore machen sollen.