Sachsens Adria heißt nicht nur so, sie ist tatsächlich leuchtend blau. Ohne Strand zwar, dafür von kühlem Wald umgeben. Das 17 Hektar große Gelände der ehemaligen Kaolingrube in Crosta gehört zu den Freizeitattraktionen der Gemeinde Großdubrau in der Oberlausitz. Ein idyllischer Natursee mit azurblauem Wasser, inmitten der Oberlausitzer Heide- und Teichlandschaft. Nur weiß das außerhalb Sachsens kaum einer. "Die wahre Schönheit unserer Landschaft erkennt man erst aus der Luft", meint Bürgermeister Wolfgang Michalk.
Seine Gemeinde Großdubrau besteht aus 20 ehemaligen Dörfern. Die Lage ist zwar nicht rosig: 850 Menschen wurden dort Anfang der 90er-Jahre arbeitslos, als dem Elektroporzellanwerk die Kundschaft in der zerfallenen Sowjetunion wegbrach. Der Presswerkzeugbau als zweiter Hauptarbeitgeber konnte nur durch massiven Stellenabbau überleben. Dennoch strahlt der Ort mit seinen frisch getünchten Fassaden alles andere als Hoffnungslosigkeit aus. Kleingewerbe, Handwerk und Dienstleistungen prägen das Wirtschaftsleben der 4.800 Einwohner starken Gemeinde.
In der Luft liegt auch eine der Hoffnungen von Bürgermeister Michalk. Im kommenden Sommer wird der Flugplatz im Ortsteil Klix Austragungsort der Weltmeisterschaft im Segelfliegen sein. Dann werden mehr als 100 Flieger aus aller Herren Länder ihre Kreise über der Oberlausitz ziehen und den Pensionen, Campingplätzen und Privatquartieren eine gute Auslastung bescheren. Michalk schaut oft beim Flugplatz vorbei, wo Vereinsheim und Flughallen für den Ansturm gerüstet werden. 20.000 Euro hat der Gemeinderat trotz Haushaltssperre dafür locker gemacht.
Überhaupt ist der 62-Jährige viel unterwegs. Über 56 Quadratkilometer verteilen sich die Ortschaften seiner Gemeinde, da muss man in Bewegung bleiben, um zu wissen, wo überall der Schuh drückt. Dabei kennt der gelernte Werkzeugmacher seine Heimat in- und auswendig: Als Jugendlicher im Fußballverein, 25 Jahre bei der Feuerwehr, über 30 Jahre als Diplomingenieur beim Presswerkzeugbau in Großdubrau, und im Vorstand seiner Kirchengemeinde war er auch lange Zeit aktiv. Gleichwohl traute er sich nach der Wende noch nicht zu, die Geschicke seiner Gemeinde entscheidend mitzubestimmen. Zu unübersichtlich waren die neuen Strukturen, zu groß schien die Herausforderung. Und was noch wichtiger war: Die alte Mutter war pflegebedürftig. Michalk gab seine Arbeit als Chefkonstrukteur auf, um sich um sie zu kümmern.
Unterdessen wurde ein Jurist aus Bayern Bürgermeister in Großdubrau, und bald war die Ruhe nachhaltig gestört. Zu weit klafften die Interessen der Einheimischen und die Vorstellungen des Zugereisten auseinander. Sechs Gemeinden mussten sich zusammenschließen, um überleben zu können. Wie das praktisch gestaltet werden sollte, darüber befanden zeitweise 60 Gemeinderäte. "Als es noch Fördermittel gab, war der Gemeinderat hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt", umschreibt Michalk die Versäumnisse der Wendezeit. Will sagen: Vor lauter Streit verpasste man die Fristen für Fördermittelanträge.
Irgendwann war es dem friedliebenden Mann denn doch zu bunt. "Was der kann, kann ich auch", sagte er sich und kandidierte 1994 für das Amt des Bürgermeisters. Gleich im ersten Anlauf verdrängte Michalk den Amtsinhaber. Inzwischen hat er lernen müssen, dass auch ein heimatverbundener Bürgermeister nicht alles erhalten kann, was ihm lieb ist. Die hübsche Dorfschule im Ortsteil Commerau ist inzwischen an einen Privatmann als Wochenenddomizil verkauft. Zwei von sechs Feuerwehren im Gemeindegebiet sind aufgelöst. Und es sollte noch schlimmer kommen.
Weil aus den Gebäuden der Grund- und Mittelschulen bereits die Birken wuchsen, hatte die Gemeinde unvorstellbare sieben Millionen Euro aus eigenen Mitteln investiert, um die Häuser herzurichten. Landeszuschüsse gab es nicht. Nun, da sich die Lausitz wegen des Arbeitsplatzmangels immer mehr entvölkert, will das Land die Schule schließen und sieben Kilometer entfernt einen Bau herrichten lassen, der die Kinder aus den umliegenden Gemeinden aufnehmen soll. Was nun? Proteste, Kundgebungen vor dem Landtag? Das ist nicht die Sprache des bedächtigen Lausitzers. "Wir werden reden müssen", meint Michalk.
Reden allein reicht jedoch nicht, wenn es um die dringend benötigten Arbeitsplätze geht. Zwar kann sich selbst der umtriebige Bürgermeister nicht so richtig vorstellen, wie man ortsfremde Firmen dazu bringen kann, ausgerechnet in Großdubrau zu investieren, wo Bautzen doch so nahe liegt. Aber das Gelände der ehemaligen Margarethenhütte, wo einstmals Ton gebrannt und Braunkohle gefördert wurde, soll als Gewerbegebiet gesichert werden. Das ansässige Kleingewerbe will sich die Planungskosten teilen, nur der Großinvestor, der zwölf Hektar in diesem Gebiet von der Treuhand zugesprochen bekommen hatte, legt sich quer, sagt der Bürgermeister. Ein Ortsfremder, der bislang noch kein brauchbares Konzept vorgelegt habe. Eine ärgerliche Last, über die Wolfgang Michalk nicht gerne spricht, weil die Gemeinde das Gelände lieber selbst von der Treuhand zurückgekauft hätte.
Die 16 Gemeinderatsmitglieder unterstützen ihren Bürgermeister. "Bei uns gibt es keine Fraktionen, wir arbeiten alle zum Wohle unserer Bürger", sagt Michalks Stellvertreterin, Ingeborg Klisch. Sie gehört der Unabhängigen Wählervereinigung an, die sich die Sitze im Gemeinderat mit der CDU teilt. Alle anderen Parteien haben offenbar keine Chance in Großdubrau. Und auch die Unabhängigen unterscheiden sich von der CDU im Wesentlichen dadurch, dass sie sich aus DDR-Erfahrung heraus geschworen haben, niemals einer Partei anzugehören. Kritik am Bürgermeister? Fehlanzeige. "Wir haben 20 Jahre lang im Presswerkzeugbau zusammen gearbeitet, da wissen wir, was wir uns gegenseitig sagen können", meint Ingeborg Klisch, und man muss schon nachfragen, um eine Ahnung zu bekommen, wo die Schwächen dieses Mannes liegen könnten. "Er will es halt allen recht machen", rutscht es seiner Stellvertreterin dann doch heraus. Schafft er auch fast: Schließlich haben sich bei den Wahlen 2001 78 Prozent der Wähler für Michalk entschieden.
Der Bürgermeister ist unterdessen wieder unterwegs: eine Geschäftseröffnung. Den offiziellen Teil hat er verpasst, weil er zu lange am Flugplatz war. Macht nichts. Wolfgang Michalk kommt nicht, um Bänder durchzuschneiden und mit Foto in der örtlichen Presse zu erscheinen. Er überreicht der Floristin, die neue Räume bezogen hat, eine Flasche Sekt, weil ihm ihre Arbeit wirklich gefällt. "Sie hat Stil und Geschmack in den Ort gebracht und sich eine Stammkundschaft aufgebaut" - das beeindruckt den Bürgermeister. Wie praktisch: Hier kann er gleich einen Blumenstrauß kaufen für den kranken Kollegen aus dem Gemeinderat, den er anschließend noch besuchen will. Menschen besuchen gehört zu seinen Lieblingsbeschäftigungen. Am liebsten Altersjubilare, die sich freuen, wenn jemand zu ihnen kommt. Für einen Moment vergisst Wolfgang Michalk dann, was ihn am meisten bedrückt: die 16 Prozent Arbeitslosigkeit in seiner Gemeinde und seine Ohnmacht, für sie etwas Wirksames unternehmen zu können. Da hilft wieder nur hoffen. Darauf, dass mehr Menschen sich für die liebliche Teichlandschaft vor den Toren Bautzens erwärmen.
Astrid Pawasser arbeitet als freie Journalistin in Dresden.