Der Kinderreichtum ist in der kleinen münsterländischen Gemeinde Laer unübersehbar. An den Ständen auf dem winzigen Marktplatz vor dem Rathaus stehen Frauen mit Kinderwagen oder Kindern an der Hand. Auf den Parkplätzen ist kaum ein Auto zu sehen, das keinen Kindersitz im Fond montiert hat, und rund um die Ganztagsgrundschule gruppieren sich gut sichtbar gleich drei Kindergärten. Die Statistik belegt, dass Laer zu den zehn geburtenstärksten Orten Deutschlands gehört und in Nordrhein-Westfalen sogar Spitzenreiter ist.
Während die Geburtenrate 2002 in ganz Deutschland bei durchschnittlich 8,7 Prozent lag, wurden in Laer auf 1.000 Einwohner 13,5 Prozent erreicht. In dem Ort mit rund 6.300 Einwohnern wurden 84 Erdenbürger geboren. Zwar flachte die Geburtenrate 2003 auf 63 Geburten ab, doch zwischen dem 1. Januar und dem 4. November vergangenen Jahres kamen wieder 72 Kinder zur Welt. Es scheint, dass sich in Laer die Geburtenrate auf hohem Niveau konsolidiert.
Seit der Babyboom bekannt wurde, pilgern Journalisten und Fachleute nach Laer. Der Ort hat eine Berühmtheit erlangt, die den Bürgern schon ein bisschen lästig wird, obwohl sie andererseits auch stolz darauf sind. Viele meinen, dass Laers Ruf nicht unbegründet ist, sondern der gezielt familienfreundlichen Politik ihres grünen Bürgermeisters Hans-Jürgen Schimke zu verdanken ist. Der heute 56-Jährige war 1999 in der CDU-dominierten Kommune in einer Kampfabstimmung gewählt worden und wurde im September 2004 im Amt bestätigt. Der ehemalige Fachhochschul-Professor, Vater von zwei Kindern und Landesvorstandsmitglied im Kinderschutzbund, bestätigt zwar, dass er zusammen mit dem Gemeinderat versucht habe, eine familienfreundliche Politik zu betreiben. Er bezweifelt aber, dass der Kinderreichtum auf "paradiesische Zustände" für Familien zurückzuführen ist: "Die Entscheidung für Kinder hat so viele persönliche Aspekte, dass man das nicht runterrechnen kann."
Einige Laerer Bürgerinnen widersprechen entschieden. "Wir sind von Rüsselsheim nach Laer gezogen", sagt Meike Ritter, Mutter von zwei Kindern und Stewardess mit Teilzeitstelle bei der Lufthansa, "weil es hier mit den Betreuungszeiten für Kinder ideal ist." Während in NRW nur ein Fünftel aller Kindergärten Ganztagsplätze haben, bieten in Laer gleich fünf von sieben eine Betreuung von morgens 8 Uhr bis nachmittags 16 Uhr. Die von einer Elterninitiative getragene Kita Löwenzahn nimmt überdies Kinder bereits mit vier Monaten auf. Sie wird wie die anderen auch mit öffentlichen Mitteln gefördert. Warteschlangen für einen Betreuungsplatz gibt es in Laer nicht. "Jeder, der einen Platz braucht, bekommt ihn auch", weiß Schulamtsleiter Bernhard Rosing.
Folgerichtig hat die Gemeinde als eine der ersten in NRW auch ihre Grundschule zu einer Ganztagsgrundschule ausgebaut. "Wenn die Zeit in der Krippe oder im Hort vorüber ist, wollen die Mütter doch nicht mit ihrer Arbeit aufhören, nur weil ihr Kind in die Schule kommt", sagt die Sozialpädagogin Inge Behler, die den Ganztagszweig der Grundschule leitet. Zusammen mit einer engagierten Elterninitiative haben der grüne Bürgermeister und eine Ratsmehrheit die Ganztagsgrundschule mit einem tollen Nachmittagsprogramm durchgeboxt. Sogar die CDU-Ratsfrauen haben gegen ihre männlichen Unionskollegen für die Ganztagsgrundschule gestimmt. "Das Angebot läuft so gut, dass die Kinder, die die Ganztagsschule besuchen, bereits als privilegiert angesehen werden. Dabei war die Einrichtung doch zunächst eine Notlösung, um nachmittags eine Betreuung für die Kinder arbeitenden Eltern zu haben", freut sich Inge Behler.
Das Betreuungsangebot ist nach Auffassung von Bürgermeister Schimke aus einer Mischung aus Nachfrage- und daraus resultierender Angebotsorientierung im Laufe der Jahre eher zufällig gewachsen. "Die Gemeinde hat in den 90er-Jahren aufgrund eines starken Bevölkerungswachstums die Kindergärten mitsamt der Übermittagsbetreuung ausgebaut und sich dann für die Ganztagsgrundschule stark gemacht", berichtet er. In keinem Fall könne von einer geplanten Strategie zur Familienförderung die Rede sein. Allerdings will er nicht ausschließen, dass das beachtliche Betreuungsangebot bei der Entscheidung für das zweite oder dritte Kind hilfreich ist.
Auffallend ist, dass in Laer nicht überdurchnittlich viele Gastarbeiter leben, und dass auch sozial Schwache, die sich ebenfalls oft durch Kinderreichtum auszeichnen, nicht überproportional vertreten sind. Auffallend ist auch, das Laer eine strukturschwache Gemeinde fast ohne Industrie ist. Die Gemeinde muss sich andere Finanzquellen erschließen. Der Bürgermeister setzt auf Wachstum: Weil eine höhere Bevölkerungszahl zu mehr Landeszuweisungen führt, soll die Kommune nach seinen Plänen bis 2020 7.500 Bürger zählen. Pro Bürger gibt es vom Land etwa 550 Euro. Um neue Bewohner anzulocken, will Schimke günstiges Bauland mit Quadratmeterpreisen von 105 bis 150 Euro erschließen. Das ist ein Anreiz, denn im nur 26 Kilometer entfernten Münster liegen die Preise doppelt so hoch. So ist es nicht nur die gute Kinderbetreuung, sondern ein ganzes Angebotsbündel, das Laer attraktiv macht.
Die Autorin ist freie Journalistin in Köln.