Es ist noch keine zehn Jahre her, dass das so idyllisch anmutende Kopenhagen vor dem finanziellen Kollaps stand. Die Gemeinde verkaufte einen großen Teil ihrer Gebäude, auch Teile der städtischen Versorgung gingen in private Hände über. Kritisch machten die Stadtoberen sich an die Ursachenforschung. Dabei stellten sie fest, dass die dänische Hauptstadt über die Jahre massenhaft Steuerzahler verloren hatte. Vor allem Familien mit kleinen Kindern hatten der 500.000-Einwohner-Stadt den Rücken gekehrt. Gründe dafür gab es einige; einer von ihnen war schlicht städtebaulicher Natur. Jede zweite Kopenhagener Wohnung hat nur ein oder zwei Zimmer und macht Familienleben somit fast unmöglich. Hinzu kam, dass die Stadtflucht der Mittelschicht eine Sogwirkung auslöste. Immer mehr Menschen, die es sich leisten konnten, zogen weg. Es entstanden Wohnviertel, in die keiner ziehen will und deren Bewohner in immer mehr Hinsichten auf staatliche Unterstützung angewiesen waren.
Nicht nur als Berlinerin kommt einem diese Geschichte bekannt vor. Ob London oder Paris, Barcelona und Athen, Amsterdam oder Warschau - nahezu jede Großstadt erlebt in den vergangenen Jahren eine unübersehbare Veränderung ihrer Innenstädte. Und auch Kleinstädte kämpfen mit dem Abdriften ganzer Stadtteile.
Weil das so ist, saßen im Auswärtigen Amt im November vergangenen Jahres 160 Teilnehmer aus 20 Ländern zusammen und diskutieren etwas, was im Titel der Konferenz in bestem Soziologendeutsch "Integrierte Strategien für Kinder und Jugendliche in benachteiligten Stadtteilen" heißt. Die Dänin Lykke Leonardsen war angereist, um ihren Kollegen einen Eindruck davon zu vermitteln, wie die Kopenhagener Stadtverwaltung mit Hilfe des Programms "Lifting up the Neighbourhood" versucht, die verarmten Quartiere und vor allem deren Bewohner zu weniger benachteiligten zu machen. Anschließend berichtete eine Teilnehmerin aus Amsterdam, wie man sich dort bemüht, überwiegend marokkanische Bürger zu motivieren, sich in ihren Wohngegenden zu engagieren.
Im Publikum saßen Bürgermeister und Stadtamtsleiter, Jugendamtsmitarbeiter und Stadtentwickler, die längst nicht alle aus Metropolen stammten: Der Bürgermeister von Korfu war da, ein Gemeindemitarbeiter aus Bologna, eine Jugendarbeiterin aus Plovdiv und ein Jugendarbeiter aus Vilnius. Die Deutschen kamen unter anderem aus Halle und Mannheim, Chemnitz, Karlsruhe und Lübeck. Am Ende der zweitägigen Konferenz verabschiedeten die Teilnehmer gemeinsame Eckpunkte zur Entwicklung der sozialen Stadt für Kinder und Jugendliche.
Veranstalter war neben dem Bundesfamilienministerium der Kongress der Gemeinden und Regionen in Europa (KGRE). Dieser Kongress, der der allgemeinen Öffentlichkeit bis heute weitgehend unbekannt ist, ist so etwas wie die Stimme der Kommunen im Europarat. Gegründet wurde er 1994 als Nachfolgeorganisation der Ständigen Konferenz der Gemeinden und Regionen Europas. In Kürze funktioniert der KGRE so: Sämtliche 46 Mitgliedstaaten des Europarats entsenden Vertreter - in der Regel Bürgermeister, Stadtratsmitglieder, Landräte oder andere Kommunalpolitiker. Deutschland stellt 18 der 630 Mitglieder; ihre Wahl wird von der Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände organisiert. Einmal im Jahr tritt der Kongress, der aus einer Kammer der Gemeinden und einer Kammer der Regionen besteht, zusammen.
Der Hauptteil der Arbeit wird ganzjährig von 40 Mitarbeitern in Straßburg erledigt. Vier Ausschüsse beschäftigen sich mit Fragen der institutionellen Selbstverwaltung, Kultur und Erziehung, sozialer Kohäsion und nachhaltiger Entwicklung. Der erste Ausschuss konzentriert sich auf das Monitoring von Fortschritten und Rückschlägen in Fragen der Kommunal- und Regionaldemokratie. Seine Mitglieder reisen in regelmäßigen Abständen durch die 46 Europarats-Staaten und verfassen Berichte und Empfehlungen. Institutionell ist der Kongress ein beratendes Organ des Europarats und leitet sämtliche Empfehlungen an diesen weiter.
Außerdem stehen jährlich etwa zwölf internationale Konferenzen auf dem Programm, die sich meist einem Thema aus einem der drei weiteren Ausschüsse verschreiben. Die soziale Entwicklung in den Kommunen, sagt Generalsekretär Ulrich Bohner, sei dabei ein ganz klassisches Thema für den Kongress. Europaweit kämpfen Bürgermeister und Stadträte mit ähnlichen Problemen: "Die soziale Sprengkraft nimmt zu, der Mangel an Perspektiven für Kinder und Jugendliche ab. Wir wollen einen grenzüberschreitenden Dialog über die Frage organisieren, wie man dieser Lage am besten begegnet." Hinter dem Engagement für Kinder und Jugendliche steckt nicht zuletzt die "Europäische Charta der Beteiligung der Jugend am Leben der Gemeinde und der Region", die der Kongress 2003 verabschiedet hat. Diese fordert das Recht auf Mitsprache und Mitgestaltung für Jugendliche in allen Kommunen und Regionen.
Hintergrund des Engagements des KGRE ist aber auch eine weitere grenzüberschreitende Gemeinsamkeit: Europaweit fühlen Kommunalpolitiker sich von ihren föderalen und nationalen Regierungen allein gelassen. Als letzte im Glied einer Kette von Verantwortlichen seien sie häufig die mit dem wenigsten Geld, dem geringsten Einfluss und den größten Problemen, sagt Bohner: "Wir wollen Stimmen hören, die sonst allzu oft untergehen, und ihnen zu mehr Bedeutung verhelfen."
Im besten Fall vereinigen sich all diese Stimmen bei den gemeinsamen Treffen zu einer und sprechen gemeinsame Forderungen aus, an deren Erfüllung dann weiterhin gemeinsam gearbeitet wird. In Stuttgart ist das im Jahre 2003 geglückt. Dort kamen 350 Kommunalpolitiker aus 30 Ländern unter dem Motto "Integration und Partizipation von Migranten in den Städten Europas" zusammen. Zwei Tage lang debattierte man jenseits parteipolitischer Zwänge und weitgehend frei von Ideologien über das Zusammenleben der Kulturen in den Kommunen und wie weit die Integration von Minderheiten gediehen ist.
Die Unterschiede in den einzelnen Kommunen, die dabei deutlich wurden, waren enorm: Während in Rotterdam längst das aktive wie passive kommunale Wahlrecht für jeden, der länger als fünf Jahre in der Stadt lebt, verwirklicht ist und acht Sitze im Gemeinderat Migranten vorbehalten sind, hat in Moskau die Diskussion über die Beteiligung von Migranten kaum begonnen. Und während die meisten Städte sich des kommunalen Wahlrechts für Ausländer oder der Existenz von mehr oder weniger einflussreichen Ausländerbeiräten rühmen, setzt man in Großbritannien, wo sowieso zahllose Inder und Pakistani eingebürgert sind, auf umfangreiche Antidiskriminierungsgesetze.
Dennoch kam am Ende der Konferenz eine einstimmig verabschiedete "Stuttgarter Erklärung" zu Stande. Diese benennt drei strategische Ziele: Chancengleichheit sowie gleiche Rechte und Pflichten sollen durch Integration und politisches Mitwirken erreicht werden. Jeder hat ein Recht auf Ausübung seiner Religion. Kulturelle Vielfalt soll so verstanden werden, dass auch der öffentliche Dienst und andere städtische Angebote interkulturell ausgerichtet werden. Zu guter Letzt spricht sich der KGRE für ein kommunales Wahlrecht auch für Nicht-EU-Ausländer aus.
Vor allem aber ist es der Stuttgarter Konferenz geglückt, ein Netz zu knüpfen, das nun die Basis für eine regelmäßige Zusammenarbeit bietet. Vor sechs Wochen kamen die Vertreter der Städte und Gemeinden erneut am Neckar zusammen, um über Erfolge, Rück- schläge, weitere Schritte und jüngste Erkenntnisse zu beraten. Im Mittelpunkt der Folgekonferenz stand eines der Themen, die im Vorjahr als zentral erachtet wurden: die interkulturelle Öffnung der Verwaltung, also die Frage, wie es gelingen kann, mehr Einwanderer in den Dienst der Stadt zu stellen. Das nämlich schafft nicht nur Arbeitsplätze für Einwanderer - sondern bringt die soziale Stadt auch ihren zahlreichen zugewanderten Bewohnern näher.