Südamerika findet in der politischen Wahrnehmung Deutschlands kaum statt. Allenfalls die Absetzung eines Präsidenten oder Straßenkämpfe mit zahlreichen Toten finden ein Medienecho. Der Sammelband versucht, Abhilfe zu schaffen. Über die Themengewichtung kann man unterschiedlicher Auffassung sein, den Länderanalysen hätte eine stringentere Analysematrix gut getan. Dennoch bieten die Beiträge eine informative Bandbreite an Einschätzungen der für die Stabilität Südamerikas bedeutsamen Region.
Ecuador hat sich durch einen schnellen Wechsel von teils pittoresken Präsidenten und einem punktuellen Zusammenwirken von Militär und Indígenas in eine institutionelle Dauerkrise manövriert, aus der überhastete Verfassungsreformen keinen Ausweg bieten. Die Hoffnung, auch nur rudimentäre Nachhaltigkeitsstrukturen zu schaffen, ist geschwunden.
In Kolumbien ist ein Ausweg aus dem Gewaltzyklus zwischen Staat, Guerrilla und Paramilitärs kaum ersichtlich. Militärisch dürfte der Konflikt auch langfristig für keine Seite zu gewinnen sein. Die vorsichtigen Friedensverhandlungen scheinen, kaum dass sie begonnen haben, schon wieder am Ende zu sein.
Eine politische Lösung hängt wesentlich von der vernachlässigten Frage ab, ob die Guerrilla noch über eine politische Motivation verfügt, oder ob es sich inzwischen eher um eine vom historischen Ursprung weit entfernte kriminelle Bewegung handelt, für die eine Einbindung in das politische System keinen erkennbaren Anreiz für ernsthafte Verhandlungen darstellt.
Venezuela, lange eine der stabilsten Demokratien, bietet das Paradebeispiel einer institutionell wie mental verkrusteten politischen Kaste, die in ihrer Selbstbezogenheit und Realitätsferne seit den 80er-Jahren alle Warnsignale der heraufziehenden Krise selbstherrlich ignoriert und einen zur Implosion des politischen Systems führenden Reformstau zu verantworten hat. Das Ausmaß dieses Versagens ist die Ursache dafür, dass Präsident Chávez trotz sich verschärfender Probleme mit einer stark personalisierten symbolischen Politik bislang aller Krisen Herr werden konnte und noch immer erheblichen Rückhalt in der Bevölkerung hat. Die militarisiert-autoritäre Regierungspraxis hat das Land gespalten. Trotz massiver Proteste sind jedoch keine politischen Formationen und Entwürfe eines anderen Venezuela erkennbar. Eine bloße Anti-Chávez-Koalition ist für die Bevölkerungsmehrheit (noch) keine Alternative.
Peru steht für die wohl gescheiterte Hoffnung, mit dem Ende des Fujimori-Autoritarismus zu demokratisch-stabileren Verhältnissen zu kommen. (Neo)populistische Ansätze und ein Indígena-Präsident allein sind jedoch noch kein Programm.
Bolivien, das seit 1982 eine beachtliche politische Stabilität entwickelte und aufgrund der von Lozada 1993-1997 realisierten Politiken gar zum "Traumland der Reformen" avancierte, ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür, dass das Veränderungspotential der mit internationaler Unterstützung eingeleiteten Reformen von entsprechenden Nachhaltigkeitsstrukturen abhängt. Dies auch nicht ansatzweise erreicht zu haben, ist die Erblast der Regierung Banzer für die zweite Regierung Lozada ab 2002.
Die Regierung führt heute einen Mehrfrontenkrieg zwischen politischen Parteien, Parlament und erstarkten, teilweise fundamentalisierten Indígena-Bewegungen. Der Versuch, die Integrationsleistung des politischen Systems zu erhöhen und Bolivien vor der Unregierbarkeit zu bewahren, zeigt erste Erfolge. Dennoch, die politische Zeitbombe tickt. Offen ist nur, ob eine systemimmanente Entschärfung gelingt oder die ungelösten Konfliktlinien bolivianischer Politik über diese "Constituyente" zur institutionellen Unregierbarkeit führen.
Die diffuse Zustimmung zu den "defekten Demokratien" der Andenländer reicht für deren Stabilität nicht mehr aus. Konnten einige der Länder - trotz erheblicher sozio-ökonomischer Probleme relativ stabile Demokratien - zur Widerlegung der Modernisierungsthese dienen, so stellt sich nun die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Entwicklung und demokratischer Stabilität. Der dramatische Vertrauensverlust in die Leistungsfähigkeit der Demokratie und die wachsende Indifferenz gegenüber der Möglichkeit autoritärer Systeme sind Alarmsignale.
Eine fortschreitende Informalisierung der Ökonomie mit ihren sozio-ökonomischen Folgen, eine durch die Strukturreformen reduzierte Integrationskapazität des Staates, zunehmende Korruption und Gewalt, die Ersetzung klassischer Mechanismen politischer Partizipation durch Massenmobilisierung, der Auftritt politischer "outsider", die Resurgenz des lateinamerikanischen Populismus sowie teilweise der antisistemische Ansatz erstarkter indigener Bewegungen - all diese Indizien zeigen, dass schnelle Auswege aus dieser sich verfestigenden Krise in keinem Land ersichtlich sind.
Die Implosion des politischen Systems ist vor allem in Bolivien eine nicht zu unterschätzende Gefahr. Da ohne Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen breiter Bevölkerungsschichten grundlegende Veränderungen der Situation nicht zu erwarten sind, dürfte der andine Krisenbogen die südamerikanische Realität noch für lange Zeit prägen.
Sabine Kurtenbach, Mechthild Minkner-Bünjer, Andreas Steinhauf (Hrsg.)
Die Andenregion.
Neuer Krisenbogen in Lateinamerika.
Vervuert, Frankfurt/ M. 2004; 434 S., 28,- Euro