Die Bundesregierung hat die Reformbremse kräftig angezogen, entweder aus politischer Opportunität oder weil den Menschen nach Hartz IV nicht noch mehr Belastungen zugemutet werden sollen. Dabei müssen weitere Projekte dringend angepackt werden, wie die Reform der Pflegeversicherung, deren Finanzpolster schneller dahinschmelzen, als noch im vergangenen Jahr erwartet.
Umsetzen musste die Koalition allerdings ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe: Eltern mit Kindern müssen in der Pflegeversicherung "relativ" entlastet werden. Wie dies geschehen soll, war lange umstritten. Anfang des vergangenen Jahres hatte der von schlechten Umfragen beeindruckte Bundeskanzler überraschend ein fertiges Konzept seiner Gesundheitsministerin Ulla Schmidt gestoppt. Der neue Plan kostet Kinderlose nun das Doppelte bis Dreifache.
Inzwischen haben sich SPD und Grüne auf höhere Beiträge für Kinderlose zur Pflegeversicherung ver-ständigt. Die Familien zahlen weiter wie gehabt. Demnach wird von allen Kinderlosen ab Januar 2005 ein Aufschlag von 0,25 Prozent erhoben. Bei einem Einkommen von knapp 3.500 Euro bedeutet das eine monatliche Mehrbelastung von rund acht Euro.
Die Union hatte daran gedacht, Kinderlose nicht mit höheren Beiträgen zu belegen, sondern Menschen zu belohnen, die Kinder großziehen. Ihre Lösung sah vor, den Beitrag für alle Versicherten um 0,11 Prozentpunkte anzuheben, aber allen Eltern mit Kindern unter 18 Jahren dann pro Kind fünf Euro pauschal zu erlassen. Auch hier sollte die Parität aufgegeben werden, nur der Arbeitnehmeranteil an den Kosten der Pflegeversicherung sollte steigen, während sich für die Arbeitgeber nichts ändern sollte.
Bisher bringen Arbeitnehmer die Hälfte des Pflegebeitrages von 1,7 Prozent auf. Bei Rentnern gilt nach Angaben der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte eine Übergangsfrist bis zum 1. April. Dann wird der Zuschlag bei denen, die ihn zahlen müssen, rückwirkend für drei Monate erhoben. Da Rentner seit April 2004 allein für den Pflegbeitrag aufkommen müssen, werden dann einmalig 2,7 Prozent der Bezüge abgezogen. Danach sind es auf Dauer 1,95 Prozent.
Es wird damit gerechnet, dass durch die höheren Beiträge für Kinderlose rund 800 Millionen Euro zusammenkommen - ein Betrag mit dem sich die Pflegeversicherung nur vorübergehend Luft verschaffen kann. Das Sozialministerium geht davon aus, dass die Einnahmen in den kommenden Jahren um rund 700 Millionen Euro im Jahr hinter den Ausgaben zurückbleiben werden. Bis Ende Oktober lagen die Ausgaben um 950 Millionen Euro über den Einnahmen. Im Jahr der Bundestagswahl wird eine Deckungslücke von dann bereits 1,28 Milliarden erwartet.
Die Grünen denken an die aufgrund der demografischen Entwicklung schneller steigende Zahl der Demenzkranken. Diese müssten besser versorgt werden, was auch wieder eine Kostenfrage ist. Eine Absichtserklärung, für altersverwirrte Menschen mehr Leistungen aus der Pflegeversicherung bereit zu stellen, ist unzureichend und wird den wachsenden Anforderungen in diesem Bereich nicht gerecht. Heute zeigen sich die Folgen der Lebenseinstellung, dem Konsum den Vorzug vor Kindern gegeben zu haben.
Von den knapp zwei Millionen Pflegebedürftigen, die zur Zeit Leistungen aus der Pflegekasse beziehen, werden rund 530.000 Personen in Heimen versorgt. Und fast doppelt so viele müssen mindestens einmal täglich versorgt werden und benötigen mehrmals in der Woche eine Haushaltshilfe. Der Ersatzkassenver-band VdAK plädiert dafür, den Grundsatz "ambulant vor stationär" zu stärken, auch weil die Pflege in den eigenen vier Wänden billiger ist. Inzwischen wird in Berlin über eine "Demografiereserve" nachgedacht. Das bedeutet nichts anderes, als angesichts der Bevölkerungsentwicklung endlich vorzusorgen.
Unterdessen schmilzt der Kapitalstock der Pflege-versicherung wie Butter an der Sonne. Das bedeutet aber auch: Immer weniger Erwerbstätige müssen immer höhere Kosten tragen. Nirgendwo zeigen sich die dramatischen Auswirkungen der Vergreisung in Deutschland so deutlich wie im Pflegebereich. Das jetzige Umlagesystem ignoriert diese Entwicklung.
Was also tun? Die Rürup-Kommission hatte vorgeschlagen, den Kapitalstock der Pflegeversicherung zu erhöhen. Dazu solle der Beitragssatz für Erwerbstätige bei 1,7 Prozent eingefroren und für Ruheständler 2010 auf 3,2 Prozent und ab 2035 auf 4,5 Prozent angehoben werden. Andere Experten halten dies für das falsche Rezept und bemängeln, dass dieser Kapitalstock zu schnell aufgebraucht sein werde. Sie fordern ein kapitalgedecktes System, also eine private Pflichtversicherung. Zugleich sollten einige Leistungen aus dem jetzigen Umlagesystem weiter finanziert werden.
In der öffentlichen Diskussion fordern nun sogar die Wohlfahrtsverbände, die umlagefinanzierte Pflegeversicherung abzuschaffen. Auch aus Sicht des Bundes der Steuerzahler hat die Umlagefinanzierung keine Zukunft. Konkreter wird der Finanzwissenschaftler Bernd Raffelhüschen, der sich für eine völlige Umstellung auf eine private Versicherung ausspricht. Die heute über 60-Jährigen sollten in der gesetzlichen Versicherung bleiben und einen Pauschalbeitrag von 50 Euro im Monat zahlen. Die Jüngeren sollten 0,7 Prozent ihres Bruttoeinkommens in die gesetzliche Pflegeversicherung einzahlen und zusätzlich eine private Versicherung abschließen, die etwa 40 Euro im Monat kosten würde. Dieses Modell würde erheblich teurer als die seit zehn Jahren bestehende Pflegeversicherung. Der Trost des Experten: Ab 2024 schneide sein Modell wieder besser ab. Dieser Vorschlag ähnelt den Plänen, die Pflege über Steuern zu finanzieren. Dann kämen nicht mehr nur die abhängig Beschäftigten für die Gebrechlichen auf, sondern alle Steuerpflichtigen. Das Steuermodell wäre aber zugleich ein weiterer Schritt weg von einer lebenslang erarbeiteten Sozialleistung hin zur einer vom Staat abhängigen Versorgung. Am Ende stünde eine "Pflege nach Kassenlage", bei der doch wieder die Sozialhilfe einspringen müsste.
Der Höchstsatz der gesetzlichen Pflegekasse deckt keineswegs die Kosten eines Heimaufenthaltes. Für die Differenz, die bis zu 100 Prozent betragen kann, muss der Pflegebedürftige selbst aufkommen. Reicht das eigene Einkommen nicht aus, springt das Sozialamt ein. Zuvor aber prüft es die finanzielle Situation der Verwandtschaft; Kinder stehen nämlich für ihre pflegebedürftigen Eltern in der Pflicht. Dabei werden ihr Einkommen und das gesamte Vermögen unter die Lupe genommen. Ein Trost: Die finanziellen Forderungen dürfen wiederum nicht so hoch sein, dass die Nachkommen eine dauerhafte Einschränkung ihres Lebensstandards in Kauf nehmen müssen.
Da bei der Diskussion um die Pflege das Geld im Vordergrund steht, kommen die personellen Auswirkungen zu kurz. Mit steigender Lebenserwartung - ein unumkehrbarer Prozess, wie sich in den letzten Jahren an der Statistik ablesen lässt - steigt auch die Nachfrage nach Pflegepersonal. Dass zahlreiche Familien sich der Hilfe von Polinnen versichern, mag in erster Linie finanzielle Gründe haben, zeigt aber auch, dass ausgebildetes Pflegepersonal knapp wird. Je mehr alte Menschen gepflegt werden müssen, desto mehr gut ausgebildete Altenpflegerinnen werden gebraucht. Eine Herausforderung, der die Gesellschaft sich endlich stellen muss.