Noch zwei Tage länger wären nicht drin gewesen", sagt der Geschichtsstudent Alexander und greift erst mal zur Zigarette. Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Jüdisches Museum, Topographie des Terrors - diese und andere Gedenkstätten haben die Jugendlichen, in kleine Gruppen aufgeteilt, in den letzten Tagen besucht, um anschließend Ratschläge zu erarbeiten, wie das Erinnern an die Verbrechen des Nationalsozialismus in Zukunft gestaltet werden kann. Die Jugendlichen wissen, worüber sie sprechen: Viele von ihnen sind in Initiativen gegen Antisemitismus und Rassismus aktiv oder führen nach Seminarschluss Besucher durch frühere Konzentrationslager.
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse, der Zeitzeuge Arno Lustiger und der Liedermacher Wolf Biermann hörten genau hin, als ihnen die engagierten Youngster im Europasaal des Paul-Löbe-Hauses am vergangenen Freitag ihre Ideen präsentierten. Für Gesprächsstoff sorgte besonders die Forderung, in den Gedenkstätten auch die persönlichen Motive der Täter zu beleuchten, um die Entwicklung des Nationalsozialismus umfassender darzustellen. Erklären, wie Menschen zu Mördern geworden sind? Der KZ-Überlebende Arno Lustiger hat erlebt, dass es besonders die hohen Funktionäre des KZ-Systems waren, die sich die NS-Ideologie ohne jede Kritik zu eigen gemacht hatten und die, akademisch gebildet, "ihr gesamtes Wissen mit großer Effizienz und Fanatismus in die Vernichtung von Menschen steckten". "Umso größer ist ihre Schuld!", sagte er eindringlich. Wolf Biermann, der als DDR-Dissident selbst erlebt hat, wie ein autoritäres Regime Menschen zu Tätern und Mitläufern erzieht, nahm die Jugendlichen persönlich an die Kandare: "Das Nest, in dem ein Ei ausgebrütet wird, kann man sich nicht aussuchen, aber sobald ein Mensch erwachsen wird, ist er frei und verantwortlich. Entscheidet euch, ob ihr Schweine werdet oder Schweine bleibt, ob ihr in zehn Jahren ein KZ-Aufseher werdet oder ein tapferer Mensch, der gegen Unterdrückung kämpft!" Nachdenkliche Stille im Saal. Im Umgang mit der Vergangenheit aber ermunterte der Lyriker zu mehr Unbefangenheit: "Euer Erbe sind Goethe und Schiller, aber auch Hitler und Himmler. Das kann man sich nicht aussuchen. Ihr seid für nichts schuldig, aber für alles verantwortlich."
Selbstverständlich für die Jugendlichen in den voll besetzten Reihen. Tief beeindruckt sind sie von ihren langen Gesprächen mit dem Zeitzeugen Paul Niedermann. Sie haben darin mehr über die Schrecken des Nationalsozialismus erfahren, als ein Schulbuch je vermitteln könnte. Deshalb finden sie nicht nur, dass der Geschichtsunterricht in Schulen mehr Bezüge zwischen Gegenwart und Vergangenheit herstellen sollte, Lehrer entsprechend fortgebildet und Schulbücher grundlegend überarbeitet werden müssten; dass Gedenkstätten zeitgemäßer gestaltet werden könnten, zum Beispiel durch Anlaufstellen, in denen Pädagogen und Betreuer Fragen der Besucher persönlich beantworten. Die Schüler und Studenten möchten auch deutlich machen, was es heißt, dass zukünftiges Gedenken an den Holocaust schon bald ohne Zeitzeugen stattfinden wird, ohne Menschen wie Paul Niedermann, die unermüdlich in Schulen und Gedenkstätten jungen Menschen von ihren Erlebnissen erzählen und dadurch Geschichte greifbar machen. "Wir gehören zur letzten Generation, die überhaupt noch Zeitzeugen kennen lernen wird", sagt eine Teilnehmerin, und Bedauern schwingt in ihrer Stimme. Die Jugendlichen möchten die Schulen nun ermuntern, Gespräche mit Zeitzeugen für nachfolgende Generationen zu dokumentieren, zum Beispiel durch Videoaufzeichnungen. Aber sie baten Bundestagspräsident Thierse auch, Jugendbegegnungen wie diese stärker zu fördern. "So eine Veranstaltung sollte nicht nur einmal im Jahr stattfinden, wenn gerade ein Gedenktag vor der Tür steht", hört man immer wieder. Andere geschichtsinteressierte Jugendliche kennenlernen, gemeinsam Erfahrungen austauschen, Erlebtes reflektieren, das hat auch die junge Polin Izabela begeistert. "Viele neue Eindrücke und Sichtweisen" habe sie gewonnen, und Alexander, der künftige Historiker, hat im Gespräch mit Franzosen und Polen ebenfalls viel gelernt: "Mich hat schon überrascht, wie unterschiedlich in den einzelnen Ländern der Geschichte gedacht wird", sagt er, und bedauert, dass nun alle wieder nach Hause fahren müssen: "Hier hatte man Zeit, sich einzulassen. Allein mit Paul Niedermann haben wir vier Stunden gesprochen, das war sehr intensiv."
Auch Jan Fahlbusch, einer der zehn "Teamer", ist zufrieden. "Man kann dem Bundestag nicht vorwerfen, hier eine Alibiveranstaltung veranstaltet zu haben", sagt er. Im Gegenteil, Thierse habe die Jugendlichen sehr ernst genommen und sogar direkt Ideen aufgegriffen. So kann eine Arbeitsgruppe ihren Vorschlag, eine Wanderausstellung für "vergessene Opfergruppen", wie Sinti und Roma, Behinderte oder Zwangsarbeiter, zu konzipieren, möglicherweise sogar realisieren. Der Bundestagspräsident hat durchblicken lassen, den Vorschlag an das Kuratorium des Holocaust-Mahnmals weiterzuleiten. "Das habe ich nicht erwartet. Mal sehen, was dabei herauskommt", sagt Fahlbusch.
Als sich die Moderatorin der Veranstaltung, die Leiterin der Europa-Universität Viadrina, Gesine Schwan, zum Schluss bei allen Teilnehmern für ihr Engagement bedankt, fällt ihr Wolf Biermann ins Wort und gibt den Jugendlichen noch etwas mit auf den Weg: "Hoffentlich bleibt ihr nicht nur engagiert, sondern versteht auch, dass ihr das für euch selber tut!"