Butterwegge hat jetzt zusammen mit den Sozialwissenschaftlern Klundt und Zeng, die für den empirischen Teil verantwortlich zeichnen, eine Studie zur Kinderarmut in Ost- und Westdeutschland vorgelegt. Sie basiert auf einer (nicht-repräsentativen) Schülerbefragung in Köln und Erfurt, bringt also die Wahrnehmung von Kindern zur Sprache - im Blick auf ihre soziale Lage und die ihrer Familie. Das führt zu gewissen Undeutlichkeiten und erlaubt eigentlich keine Zusammenfassung der Ergebnisse, es sei denn, man hält sich an das - allerdings bemerkenswerte - Fazit zu den Schwierigkeiten des Forschungsablaufs, dass nämlich Pädagogen und Pädagoginnen trotz aller Alarmmeldungen weiterhin dazu tendieren, Armut zu verdrängen und deren Erscheinungsformen als individuelles Fehlverhalten zu sehen.
Da, wo konkret nachgefragt wird, stellt sich heraus, dass Armut immer noch ein Tabuthema ist. Der Wert der empirischen Erhebung liegt darin, dass sie das Verfahren der von den Autoren vorgestellten "dualen Armutsforschung" illustriert. Diese grenzt sich einerseits von einem Ressourcen-Ansatz ab, der sich auf die Einkommenshöhe konzentriert und etwa Sozialhilfebezug als Richtgröße nimmt, andererseits auch von dem in den Armuts- und Reichtumsberichten der Bundesregierung favorisierten Lebenslagen-Konzept.
Die Autoren wenden sich gegen eine Individualisierung von Notlagen, die den sozialen Sachverhalt in die subjektive Umgangsweise mit ihm auflöst. In der inzwischen relativ breit betriebenen Forschung entde-cken sie immer wieder Tendenzen, die Strukturen gesellschaftlicher Ungleichheit zu bloßen Einzelschicksalen zu verflüchtigen. Dagegen stellen die Autoren ihren "dualen" Ansatz.
Dieser will Gesellschaftskritik mit anspruchsvoller Empirie verbinden, das nationale Problem im Zusammenhang der Weltmarktdynamik betrachten, beim Armutsbegriff über den engen Rahmen der Arbeitslosen- oder Sozialhilfestatistik hinausgehen und sozialpolitische wie subjektorientierte Handlungsperspektiven erschließen. Das wird unterlegt mit zahlreichen Hinweisen zu anderen Forschungsvorhaben und -resultaten, so dass der Leser einen Überblick über den aktuellen Stand inklusive ausländische Erfahrungen erhält.
Instruktiv sind vor allem die gesellschaftstheoretischen und sozialpolitischen Ausführungen Butterwegges. Er nimmt zunächst die Besonderheiten des Ost-West-Verhältnisses auf - etwa die höhere Zahl Alleinerziehender in den neuen Bundesländern - und diskutiert sie im Blick auf die unterschiedliche sozialpolitische Geschichte der beiden deutschen Staaten. Dies ordnet er dann in den Doppelprozess der Erosion des Normalarbeitsverhältnisses und der Normalfamilie ein, der vor dem Hintergrund der Globalisierung stattfindet.
Butterwegges Grundthese: "(Kinder-)Armut ist nicht nur praktisch in der ganzen Welt verbreitet, sondern wurzelt auch in den Bewegungsgesetzen einer globalisierten Ökonomie. Sie lässt sich letztlich auf eine ungerechte Weltwirtschaftsordnung zurückführen, wo der Neoliberalismus die Arbeits- beziehungsweise Lebensbedingungen der Menschen und die Sozialstruktur der Gesellschaften tief greifend verändert."
Mit der Studie konkretisiert der Autor seine in verschiedenen Zusammenhängen vertretene These, dass es sich bei der "Globalisierung" um einen Kampfbegriff zur Durchsetzung einer "neoliberalen Modernisierung" handelt. Seine Handlungsvorschläge, die auf eine Infragestellung dieses Modernisierungs-Paradigmas und auf "eine grundlegende Umgestaltung der Gesellschaft" zielen, geraten dabei in Gegensatz zu vielen herkömmlichen familienpolitischen Positionen, die sich als maßgebliche Antwort auf das Phänomen der Kinder- und Familienarmut in Deutschland verstehen. Butterwegge: "Eine zeitgemäße Sozialpolitik hat sich nicht ‚der Familie' als solcher zuzuwenden, sondern jenen Familienmitgliedern, die unfähig sind, ihren Lebensunterhalt ohne fremde Hilfe selbstständig zu bestreiten."
Christoph Butterwegge/Michael Klundt/Matthias Zeng (Hrsg.)
Kinderarmut in Ost- und Westdeutschland.
VS-Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2005; 334 S., 24,90 Euro