Herbert Krisp arbeitet im Foyer eines Hauses, das im zusammenwachsenden Europa seinesgleichen sucht: Das "Eurode"-Businesszentrum steht im niederländischen Kerkrade und im deutschen Herzogenrath zugleich. Der Eingang ist in Deutschland, die Rezeption in den Niederlanden. Die Mitarbeiter wandern den ganzen Tag von einem Land ins andere. "Ich arbeite in Holland", sagt Ralph Reisinger, der niederländische Marketingchef im zweiten Stock, "aber auf die Toilette gehe ich in Deutschland." Und Reisinger arbeitet nicht nur in einem Haus, das für Unternehmer gebaut wurde, die in zwei Ländern präsent sein wollen. Reisingers Firma lebt von Grenzgängern. Die "Wiertz Human Resources Group" vermittelt deutsche Zeitarbeitskräfte auf den niederländischen Arbeitsmarkt.
Die kommen zuhauf und nicht nur aus dem Dreiländereck. "Auch immer mehr Menschen aus den neuen Bundesländern machen sich zu uns auf den Weg", sagt Mitarbeiterin Nadine Rademakers. Vor allem Handwerker wie Eisenflechter, Maurer oder Stu-ckateure würden in der Bauindustrie der Niederlande gerne genommen. Rademakers: "Wenn sich ein holländischer Bauunternehmer an uns wendet, suchen wir häufig lieber in Deutschland. In Holland gibt es immer noch wesentlich weniger qualifizierte Arbeitslose." Die Zeitarbeitsfirma ist längst zu einer Anlaufstelle geworden, die nicht nur bei der Arbeitsuche und auch nicht nur in den Niederlanden hilft. Zugereiste Arbeitskräfte werden in Steuerfragen beraten, es werden Gäste- oder Pensionszimmer vermittelt - in beiden Ländern.
Mehr als 6.000 Deutsche zieht es an jedem Werktag aus Deutschland ins benachbarte Polderland. Drei von vier dieser Gastarbeiter leben in Nordrhein-Westfalen - und von denen wiederum ein großer Teil auf der deutschen Seite des Dreiländerecks bei Aachen, wo die Bundesrepublik nicht nur an die Niederlande, sondern auch an Belgien grenzt. Seit Jahrzehnten gehört das Pendeln in allen drei Ländern zum Alltag: Deutsche kaufen Kaffee in den Niederlanden und Benzin in Belgien; Holländer kaufen Bier in Belgien und alles andere beim deutschen Discounter. Die niedrigeren Baupreise haben dafür gesorgt, dass viele Deutsche längst ganz umgezogen sind; die höheren Löhne in Deutschland dafür, dass Belgier und Niederländer sich in Deutschland nach Arbeit umsehen.
Aber auch institutionell war das Dreiländereck schon lange vor dem Wegfall der Schlagbäume Modellregion: Bereits 1976 schlossen sich die niederländischen und belgischen Provinzen Limburg und Lüttich mit der Region Aachen zur Euregio Maas-Rhein zusammen. Seither arbeiten Mitarbeiter in allen drei Ländern daran, den Austausch in der 4-Millionen-Einwohner-Region zu fördern. Auf deutscher Seite sitzen im Eurode-Haus in Herzogenrath-Kerkrade zwei; in Aachen zehn Mitarbeiter. Sie sind Drehscheibe und Informationsbörse für den kulturellen und sozialen Austausch und Ansprechpartner für Akteure der regionalen Strukturpolitik. Vor allem aber sind sie Grenzgängerberater. Sie koordinieren Infotage der Arbeitsämter und Steuersprechstunden der Finanzämter. Sie legen Broschüren mit Titeln wie "Wohnen in Deutschland, Arbeiten in den Niederlanden" - oder umgekehrt - vor. Und sie stehen auch persönlich in allen Fragen von "Was passiert mit meiner Krankenversicherung, wenn ich nach Belgien ziehe?" bis zu "Wird der niederländische Schulabschluss meiner Kinder auch in Deutschland anerkannt?" zur Verfügung.
Informationsbedarf gab es immer, und er wird nicht weniger. Nicht nur, weil Menschen sich von A nach B bewegen, sondern weil auch im Jahr drei des Euros die Mobilitätshemmnisse enorm sind. "Manchmal hat man den Eindruck, die Hürden würden höher statt niedriger", resümiert Christina Löhrer-Kareem, Grenzgängerberaterin bei der Regio Aachen. Schwierig, sagt sie, werde es meist nicht wegen arbeits- oder aufenthaltsrechtlicher Regelungen, sondern wegen der Organisation der Zwischenzeiten. Weil jede Regierung das System sozialer Sicherung nach wie vor als nationalstaatliche Aufgabe betrachte, fänden Grenzgänger sich häufig im Dickicht von Gesetzeslücken oder widerstreitender Bestimmungen wieder. So ist bis heute nicht geklärt, inwieweit in den Niederlanden wohnende, aber in Deutschland arbeitende Deutsche Anspruch auf die Riester-Rente haben. Auch in den Niederlanden lebende deutsche Empfänger von Arbeitslosengeld oder -hilfe, jetzt Alg II, finden sich häufig im Gestrüpp der Bestimmungen wieder. Grundsätzlich gilt: Sozialversicherungsbeiträge werden in jenem Land gezahlt, in dem man arbeitet, von dort bekommt man auch Arbeitslosenunterstützung; für die Zahlung von Sozialhilfe waren aber die Ämter des Wohnortes zuständig. Was aber passiert mit einem deutschen Alg-II-Berechtigten, der in den Niederlanden lebt? "An so manchem Einzelfall beißt man sich die Zähne aus", sagt Christina Löhrer-Kareem. "Offenbar haben viele noch gar nicht begriffen, was ein vereintes Europa bedeutet: dass die Menschen sich zwischen den Ländern bewegen."
Dabei tun sie das von Jahr zu Jahr mehr. Wenn Herbert Krisp in Herzogenrath-Kerkrade aus seinem Fenster guckt, ist nichts mehr so wie vor 15 Jahren. Wo heute ein Kreisel den Verkehr von der Nieuwstraat in die Neustraße leitet, erinnert nur noch ein verblichenes Schild des längst geschlossenen "Cafes zur Grenze" an vergangene Zeiten.
Herzogenrath und Kerkrade sind weit über das Business-Zentrum und die Neu-Nieuwstraat hinaus verbunden: Seit dem 1. Mai 1998 existiert die grenzüberschreitende Gemeinde "Eurode" als Zweckverband mit eigenem Vorstand und Verwaltungsrat. Es gibt einen gemeinsamen Stadtplan und gemeinsame Feuerwehr-Einsatzpläne. Seit drei Jahren residiert wenige Meter von Herbert Krisps Rezeption entfernt die erste deutsch-niederländische Polizeistation. Dass die hier arbeitenden Beamten sich nicht jedes Mal in verschiedene Richtungen bewegen müssen, wenn sie zur Tür hinausgehen, ist auch geklärt: Im Grenzgebiet gehen niederländische und deutsche Polizisten gemeinsam auf Streife. Die Unterschiede verwischen. Krisp sagt: "Meine Kinder wissen manchmal schon gar nicht mehr, in welchem Land sie gerade Fußball spielen."