Über Evas Bett hängen knallbunte Heiligenbilder, daneben ein Schwarz-Weiß-Kalender mit Männerakten. Stolz zeigt sie auf die weißen Schränkchen und Kommoden, die in ihrem Zimmer stehen. "Weiß ist schön und so hell", sagt sie, und für einen Augenblick fragt man sich, was die Frau hier macht, in diesem Wohnheim für schwer geistig Behinderte in der Oranienburger Straße in Berlin, dort, wo nach Sonnenuntergang blond-perückte Nutten in riesigen Plateauschuhen um Freier buhlen und studentisches Fußvolk durch qualmverhangene Kneipen zieht.
Von ihrem Zimmer aus kann Eva auf die Oranienburger Straße sehen. Dahinter versinkt an diesem grauen Wintertag der Monbijou-Park im Nebel.
Eva leidet unter Schizophrenie. Zwei Heilige sind ihre ständigen Begleiter, erzählt Ronny. Die existieren nur für Eva. Oft redet sie mit ihnen, oder die imaginären Gefährten schimpfen mit den Pflegern. "Ihr sollt die Eva nicht immer ärgern", sagt die alte Dame dann im Namen der Unsichtbaren, und da gibt es keine Widerrede.
"Am Anfang wusste ich gar nicht, was auf mich zukommt", sagt Ronny, und setzt Teewasser auf. Schwere Behinderungen sind nichts Neues für ihn, sein kleiner Bruder ist selbst geistig und körperlich behindert, muss seit seinem sechstem Lebensjahr wochentags in einem Heim betreut werden. Berührungsängste hatte Ronny deshalb nicht, als er vor knapp neun Monaten in der Wohngruppe der Lebenshilfe mit dem Zivildienst anfing. Und dennoch: "Ich musste ja erst mal sehen, wie die Leute hier sind. Mein Bruder ist doch etwas völlig anderes, als diese fremden Menschen hier. Und es gibt so viele verschiedene Behinderungen, die sich alle anders ausdrücken, da muss man ganz genau sehen, wie man damit im einzelnen umgeht."
Ronny stellt Glaskannen mit Früchtetee auf den langen Küchentisch, verteilt Kekse auf die Kuchenteller. Es ist 15 Uhr, Kaffeezeit. Seit acht Stunden ist er heute hier, hat schon Frühstück und Mittagessen für alle gemacht. Kein leichter Job. Einkaufen gehen, kochen, die Bewohner zu Arztbesuchen begleiten, beim Anziehen helfen. Da ist er schon müde, wenn er nach Hause kommt, auch wenn für die Pflege der Bewohner Fachkräfte zuständig sind. "Mit medizinischen Sachen habe ich gar nichts zu tun.", sagt Ronny. "Aber ich denke schon, dass ich hier eine gute Hilfe bin. Ich bin halt für die Bewohner da, beschäftige sie ein bißchen, weil viele sonst den ganzen Tag die Wand anstarren würden. Da ist keiner, der sagen würde, jetzt möchte ich gerne Fernsehen gucken oder mal spazieren gehen. Da muss man die Leute schon motivieren."
Die Bewohner mögen den 21-Jährigen mit den kurzen Stoppelhaaren und der großen Silberkette. An jedem Ohr trägt er einen Ohrring. Besonders Marita hat wohl "einen Narren an mir gefressen", sagt er. Als er ihr Zimmer betritt, erhebt sie sich schwungvoll aus dem Bett. Das kurze Nachthemd rutscht ihr dabei bis zur Brust und legt ihren Bauch frei. Aufgeregt läuft sie im Raum auf und ab, rafft ihr Gewand, und redet auf Ronny ein. Mit den Händen umfasst sie immer wieder ihren großen Busen. "Marita muss man manchmal bremsen. Sonst kann es kann ganz schön anstrengend sein mit ihr.", sagt Ronny.
Wenn er mit den Behinderten spricht, redet er laut. Viele hier sind schwerhörig. Beherzt nimmt er Marita schon mal in den Arm oder legt Eva beruhigend die Hand auf die Schulter. Christiane Koss, die Leiterin der Einrichtung, findet, der Ronny habe "eine sehr nette Art", weil er die Leute nicht wie Kleinkinder behandle, sondern "mit großer Wertschätzung und Respekt".
Ronny ist gern hier, das merkt man schnell. Acht Bewohner betreut der junge Mann aus dem Berliner Prenzlauer Berg zusammen mit drei Pflegern. Die schwer geistig Behinderten sind alle über 60 Jahre alt. Zum Beispiel Jürgen, der Autist, der stundenlang an seinem Computer sitzt und auf zahllosen Zetteln Notizen und Rechenübungen macht. Oder Bärbel, die kleine Frau mit Down-Syndrom, die fast nie redet, aber lächelt wie fünf Jahre Sonnenschein, wenn man sie anspricht. "Bärbelchen", nennt Ronny sie liebevoll und beugt sich beim Sprechen ganz nah an ihr Ohr, weil sie sonst nichts versteht. Während er den Tee zubereitet, wandert Bärbel mit ihrer Gehhilfe durch die Flure. Ihr Handtäschchen und die Kuscheltiere trägt sie in einem kleinen Korb bei sich. Lange verharrt sie und sieht Ronny beim Tischdecken zu.
"Ich hätte gedacht, hier ist mehr Trubel", erklärt der Zivildienstleistende. "Dass es so ruhig und harmonisch ist, hätte ich nicht erwartet." Den täglichen Umgang mit den Behinderten empfindet er als nichts Ungewöhnliches. "Die verhalten sich doch ganz normal, und ich geh' auch ganz normal mit denen um. Sie lachen eben über Sachen, die man selbst gar nicht komisch findet, oder erzählen alles hundert Mal. Am Anfang war mir das etwas unangenehm. Doch jetzt habe ich keine Probleme mehr damit."
Die Bewohner wissen es offenbar zu schätzen, dass er da ist. "Die sagen zwar nicht ,Danke', wie andere das tun würden, aber der Karsten zum Beispiel, gibt mir manchmal einen Knutscher und sagt ,Ich hab dich lieb'." Bärbelchen drückt mich dann. Die sind schon froh, dass man sich mit ihnen beschäftigt und zeigen das auch."
Ronny bereut nicht, dass er sich für den Zivildienst entschieden hat: "Das war für mich persönlich eine sehr, sehr gute Erfahrung. Vorher habe ich da gehangen, wusste nichts anzufangen, und dann hatte ich endlich wieder eine Aufgabe, auch wenn es ja bloß zehn Monate sind. Aber es war eine gute Möglichkeit, etwas Neues kennen zu lernen, herauszufinden, was man in Zukunft eigentlich machen möchte. Sogar Kochen habe ich hier gelernt."
Beim Bund, da ist er sich sicher, wäre er nicht gut aufgehoben gewesen. "Mit solchen Möchtegern-Rambos komme ich einfach nicht klar. Und mich da unterzuordnen, wie das beim Bund nun mal so ist, das ist nichts für mich." Eine Arbeit auf dem Bau oder anderswo kann er sich nicht vorstellen. "Nicht wegen der schweren Arbeit, aber ich mach' einfach lieber solche Sachen mit alten oder kranken Leuten. Meine Kumpels zeigen mir da manchmal 'nen Vogel, aber da sag' ich nur, jedem das Seine."
Er habe schon vorher mal im Altersheim gearbeitet, erzählt Ronny, als Pflegekraft, und später dann, als er Sozialhilfeempfänger wurde, 40 Stunden im Monat in der Mobilitätshilfe. "Da geht man zu den alten Leuten nach Hause, kauft mal ein oder ist einfach nur zum Reden da." Erst durch den Zivildienst habe er herausgefunden, dass er auch in Zukunft mit Behinderten arbeiten möchte. Im Anschluss möchte er deshalb eine Ausbildung zum Heilerziehungspfleger machen. Seinen Schulabschluss will er nachholen. "Wenn das hier vorbei ist, werde ich der Einrichtung auf jeden Fall erhalten bleiben. Die Bewohner werde ich bestimmt besuchen. Ich könnte als Vertretung arbeiten oder einen Computerkurs geben."
"Unsere Zivis sind ein ziemlich treuer Club.", sagt Christiane Koss. "Viele bleiben irgendwie an der Einrichtung hängen. Ich habe hier schon gelernte Maurer reinkommen sehen, die sich völlig umorientiert haben und hinterher eine Ausbildung im Pflegebereich anfingen." Nicht wenige beginnen danach ein Studium und helfen hin und wieder aus.
"Es gibt ja Leute, die wollen keinen Zivildienst machen, weil sie sich nicht vorstellen können, mit Alten oder Kranken zu arbeiten", sagt Ronny. "Aber Zivildienst bedeutet doch nicht unbedingt, dass man den Leuten auf die Toilette helfen muss oder sowas. Ich habe schon Kollegen getroffen, die haben beim Bürgermeister gearbeitet, als Hausmeister. Auch das ist Zivildienst!"
Früchtetees in allen Rot- und Gelb-Schattierungen stehen auf dem Tisch, es duftet nach Beeren. Langsam füllt sich die große Küche. An einer Tafel pinnen die Fotos vom letzten Ostseeurlaub der Behindertengruppe. Marita, Eva und die anderen sitzen lachend in rot-weißen Strandkörben. Nicht unweit davon strahlt das Kukident-Lächeln von Brad Pitt von der Tapete. Marita ist immer noch ganz hibbelig, entschuldigt sich bei Ronny, "weil ich heute so nervös bin", und knabbert an ihrem Keks. Die stille Bärbel sitzt einfach nur da und schaut zufrieden.
Ronny hat Feierabend. Es ist sein letzter Arbeitstag, ab morgen hat er Urlaub. Dann arbeitet er noch zwei Wochen, und vorbei ist die Zivi-Zeit. Trotz der Verkürzung der Dienstzeit von zehn auf neun Monate letzten Oktober, hat Ronny volle zehn Monate gearbeitet, freiwillig. Er geht nicht gern.
Als Eva erfährt, dass Ronny bald nicht mehr da sein wird, ist sie traurig. "Och, schade, jehste schon?", sagt die Berlinerin, wieder und wieder, ungläubig. "Ja, kommste uns denn besuchen?", fragt sie. "Klar, mach ick.", sagt Ronny. "Sicher."
Johanna Metz ist Volontärin bei "Das Parlament".