Im Internet offeriert eine "examinierte Krankenschwester" aus Polen ("gute Deutschkenntnisse") ihre Dienste für einen Haushalt in Sachsen oder Brandenburg. Eine Landsmännin verweist in ihrer Web-Annonce bei der Stellensuche darauf, dass sie "klaine Deutsch sprechen". An der Mosel und in der Eifel kursieren unter Verwandten und Bekannten Telefonnummern von Polinnen wie auch von professionell arbeitenden Vermittlungsagenturen, vorzugsweise im Raum Frankfurt, die jemanden fürs Kochen, Bettenmachen und Einkaufen, fürs Spazierengehen mit alten Leuten, fürs Legen von Verbänden oder für die regelmäßige Verabreichung von Medikamenten zur Hand haben. Zwischen Ostsee und Alpen geben auch schon mal Ärzte Angehörigen einen Tipp. In Polen, Tschechien, Ungarn, der Slowakei oder im Baltikum haben wiederum Frauen unter sich Netzwerke geknüpft, um sich gegenseitig die begehrten Jobs in Deutschland zu verschaffen - oder sie bedienen sich eben effizienter Agenturen, die alles erledigen.
Einst brauchten die Helferinnen ein dreimonatiges Touristenvisum für die Einreise, seit dem EU-Beitritt der betreffenden Länder ist dies nicht mehr erforderlich. Nötig ist eine Arbeitserlaubnis, eigentlich, nun ja.
Osteuropäerinnen als Pflege- und Haushaltskräfte bei deutschen Familien - diese Grauzone gereicht beiden Seiten zum Vorteil: Die Frauen erhalten in der Regel 850 Euro im Monat, hinzu kommen freie Kost und Logis - und 850 Euro bedeuten in der Heimat ein Mehrfaches an Kaufkraft. Für Deutsche ist die Beschäftigung einer Litauerin oder Ungarin oft die einzige Möglichkeit für eine häusliche Rund-um-die-Uhr-Betreuung der kränkelnden Eltern: Mit den Zuschüssen der Pflegekassen lassen sich professionelle ambulante Dienste nicht bezahlen, und aus eigener Tasche können sich Durchschnittsverdiener diese enormen Aufwendungen ebenfalls nicht leisten. Die Verlegung älterer Menschen ins Heim würde viel Geld kosten, und die meisten Pflegebedürftigen bleiben auch lieber in den gewohnten vier Wänden.
Es wäre nicht verwunderlich, würde sich Werner Ballhausen über diese Zustände empören. Ist es nicht so, dass Europa, dass die EU-Billigkonkurrenz ins Land schwemmt, dass dies bei sozialen Diensten
und augenfällig bei der ambulanten Pflege zu dramatischen Verwerfungen mit inzwischen 40.000 arbeitslosen Pflegekräften führt, dass viele hiesige Anbieter um die Existenz kämpfen oder Pleite gehen? Doch der Geschäftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege, der die großen Sozialverbände angehören, bleibt in seinem Berliner Büro recht gelassen. Ballhausen rückt den Blickwinkel zurecht: "Nicht die EU und auch nicht die EU-Ausdehnung schaffen die Probleme. Die Öffnung der Grenzen nach dem Fall des Eisernen Vorhangs hat dafür gesorgt, dass die Menschen beweglich wurden und sich Arbeit suchen". Die EU-Osterweiterung, betont Ballhausen, "bietet die Chance, diese Dinge rechtlich zu regeln".
Dringender Handlungsbedarf ist unübersehbar. Über die Zahl osteuropäischer Helferinnen kursieren nur Schätzungen, von bundesweit bis zu 60.000 ist die Rede. Ballhausen: "Seriöse Daten gibt es nicht, aber 60.000 ist zu niedrig gegriffen". Ambulante Dienste kämen "kaum noch in den Markt der häuslichen Pflege", es gebe ein "spürbares Absterben" bei diesen Unternehmen.
In einem Brandbrief an die Wiesbadener Sozialministerin Silke Lautenschläger lässt eine "Initiative ambulanter und stationärer Pflegeeinrichtungen in Hessen" die Alarmglocken schrillen: Immer mehr reguläre Arbeitsplätze gingen verloren, "weil sie gegenüber einer sich etablierenden Schwarzarbeit nicht konkurrenzfähig sind", wo "Dumping-Löhne" gezahlt würden. In der Altenpflege "drohen gewachsene Strukturen zusammenzubrechen", es seien bereits Insolvenzen zu beklagen, so Sprecher Jochen Rindfleisch-Jantzon. Die Initiative fordert die Ministerin auf, "der unkontrollierten Billigpflege durch osteuropäische Hilfskräfte" einen Riegel vorzuschieben.
Pflegeeinrichtungen warnen, dass die "Amateure" aus dem Osten mangels Qualifikation die Betreuung alter Leute nicht angemessen wahrnehmen und deshalb Probleme wie etwa Wundliegen auftauchen könnten. Auch bei dieser Frage zeigt sich Werner Ballhausen gelassen: "Die Polinnen arbeiten hervorragend, die sind hoch motiviert". In der Grauzone sind diese Frauen in der Tat darauf angewiesen, ihre "Arbeitgeber" zufrieden zu stellen und so eine "Kündigung" zu vermeiden. Im Übrigen, ergänzt Ballhausen, dürfe man die Tätigkeit der Osteuropäerinnen nicht an der Leistung professioneller Dienste messen, sondern müsse dies mit dem Engagement von Familienangehörigen vergleichen.
Werde die Pflege der Eltern medizinisch komplizierter, könne man ja für einzelne Handreichungen zusätzlich Profis heranziehen. Und wenn es ganz ernst werde, existiere immer noch das Heim. Der massenhafte Einsatz preisgünstiger Osteuropäerinnen im ambulanten Sektor könnte im stationären Bereich eine ohnehin zu beobachtende Tendenz verstärken: In solchen Institutionen landen zusehends nur noch Schwerstfälle, gelegentlich ist schon das Wort von "Sterbeheimen" zu hören. Ballhausen: "Das Heim kommt erst dann ins Spiel, wenn es gar nicht mehr anders geht". Bei Pflegeeinrichtungen kursiert bereits die Befürchtung, dass Heimplätze nicht mehr belegt werden können - eben weil das die Polin zu Hause billiger erledigt. Diese Sorge teilt Ballhausen nicht: "Meist haben wir immer noch lange Wartezeiten". Allerdings verändere sich das Klima in Heimen: "Früher hatten wir zum Beispiel viele Kulturkreise, dazu sind die meisten Bewohner mittlerweile nicht mehr fähig."
Erst am Anfang steht eine andere Entwicklung: Deutsche Träger eröffnen Pflegeheime im EU-Ausland. Die Kassen zahlen jedenfalls jenseits der Grenze ihre Zuschüsse nach den hierzulande geltenden Kriterien, wie eine Sprecherin der DAK erläutert. So unterhält die Diakonie bereits zwei Häuser in Spanien, eines auf Mallorca, eines auf dem Festland: In diese Heime können auch Einheimische ziehen, in erster Linie sind sie indes gedacht für Deutsche, die schon länger als "Residenten" auf der iberischen Halbinsel leben und auch im Pflegefall dort bleiben möchten. Oder am Bosporus managen inländische und deutsche Betreiber gemeinsam ein Heim für Türken, die nach ihrer Berufsphase in der Bundesrepublik zurückgekehrt sind.
Als Generalsekretär von Eurodiaconia, der europäischen Vertretung nationaler evangelischer Sozialverbände, schätzt Albert Brandstätter, dass sich in attraktiven Regionen wie Spanien oder den Masuren ein gewisser internationaler Markt auftun könnte - mit gut betuchten Zielgruppen wie etwa den Schweden, die sich in großer Zahl in Spanien niedergelassen haben.
"Keine große Zukunft" gibt der Österreicher indes immer mal wieder diskutierten Ideen, in billigen EU-Ländern wie etwa Tschechien oder Polen Pflegeheime zu gründen - die dann zum Beispiel für Deutsche eher erschwinglich wären als zu Hause. Brandstätter: "Ich bin skeptisch, ob jemand im Alter und dann noch als Pflegebedürftiger in die Fremde umsiedelt." So sieht es auch Manfred Carrier vom deutschen Diakonie-Bundesverband, dem bei einem solchen Gedanken "die Haare zu Berge stehen": Es sei "ethisch nicht vertretbar", solche Menschen ins Ausland zu verlagern, "die Leute wären doch völlig isoliert". Die Wohlfahrtspflege orientiere sich an der wohnortnahen Betreuung auch bei einer Heimunterbringung.
In erster Linie macht sich die Öffnung der Grenzen bislang bei ambulanten Pflegediensten bemerkbar. Werner Ballhausen kann sich vorstellen, dass sich eines Tages auch bei der Betreuung Behinderter osteuropäische Kräfte tummeln. Voraussetzung wäre allerdings, dass sich das zurzeit noch in Modellprojekten getestete "persönliche Budget" durchsetzen sollte: Der Behinderte erhält eine gewisse Summe an Geld, mit dem er sich "auf dem Markt" Versorgungsleistungen "einkauft" - und dann könnten Polinnen oder Tschechinnen billiger als deutsche Anbieter sein, so wie jetzt bei der Pflege.
Die von Ballhausen erhoffte Regelung grenzübergreifender Grauzonen mit Hilfe der Politik dürfte noch eine Weile auf sich warten lassen. Nach dem neuen deutschen Zuwanderungsgesetz können Osteuropäerinnen unter bestimmten Bedingungen eine offizielle Arbeitsgenehmigung als Haushaltshilfe in Familien mit Pflegebedürftigen erhalten - das soll nicht für Pflegetätigkeiten gelten, doch im Alltag dürfte genau das stattfinden, nun eben in einer Art Halblegalität.
Protest in der Pflegebranche löst die zurzeit in Brüssel diskutierte Dienstleistungsrichtlinie aus, die EU-weit für diesen Sektor und damit auch für soziale Dienste eine rechtliche Basis schaffen soll. Dieses noch nicht verabschiedete EU-Gesetz proklamiert das "Herkunftslandprinzip": Nach dem Willen der Brüsseler Kommission würden Anbieter etwa aus Tschechien, Polen oder dem Baltikum in der Bundesrepublik ambulante Pflegedienste nach Regeln offerieren können, die in ihrer Heimat gelten - wo die Löhne niedriger sind, andere Normen bei der Betreuung alter Leute praktiziert werden und sich auch die Aufsicht nicht so abspielt wie in Deutschland.
Massive Kritik an der EU-Richtlinie übt der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge: Hiesige Qualitätsstandards könnten "erodieren und sich verschlechtern". Bei der Pflege müssten die einzelnen Staaten, verlangt der Verband, für ihr Territorium souverän das Leistungsniveau festlegen, das die Anbieter zu erbringen haben. Stephanie Scholz vom Diakonischen Werk sieht die deutsche Pflegeaufsicht in Form des Medizinischen Dienstes in Gefahr, nirgendwo sonst in der EU existierten so präzise Regeln wie in der Bundesrepublik. Scholz warnt zudem vor der "drohenden Erschütterung des nationalen Lohn- und Tarifgefüges": Anders als im Bausektor würden die sozialen Dienste nicht vor Lohndumping geschützt.
Der Streit um die EU-Richtlinie beschäftigt jenseits öffentlicher Wahrnehmung bisher vorwiegend die Fachwelt. Zu den wenigen Politikern, die auf die Barrikaden gehen, gehört die saarländische SPD-Landtagsabgeordnete Isolde Ries. Für einen Landesparteitag Anfang März hat sie einen Antrag eingebracht, der von der EU-Kommission den Rückzug des Entwurfs und dessen vollständige Überarbeitung verlangt. Die SPD-Politikerin fürchtet "das Ende der öffentlichen Gesundheitsversorgung in Deutschland", auf dem Prüfstand stehe das europäische Sozialmodell. Die ambulante Pflege sei von der EU-Politik am schlimmsten betroffen. Ries: "Zu der Schwarzarbeit der Osteuropäerinnen holen wir uns noch die legale Billigkonkurrenz ausländischer Dienste ins Land."
Das Übel an der Wurzel packen lässt sich aus Sicht Werner Ballhausens am ehesten durch eine bessere finanzielle Ausstattung der Pflegekassen: Nur höhere Leistungen für alte Menschen könnten in die Lage versetzen, hiesige ambulante Dienste zu deren höheren Tarifen zu beschäftigen. Seit Jahren seien die Pflegesätze nicht einmal an die Inflation angepasst worden: "Wir müssen mehr Geld in die Pflege geben."