Thea Bauriedl, Leiterin des Instituts für politische Psychoanalyse München, berichtet von einem beispielhaften Experiment aus Berlin. Dort hatte eine junge Sozialarbeiterin Jugendliche dazu bewegen können, Medikamente für Weißrussland zu sammeln. Die Aktion wurde durch rechtsorientierte arbeitslose Jugendliche gestört. Deren Parole: Man müsse den Russen in ihrem Land helfen, damit "sie nicht auch noch zu uns kommen". Die Sozialarbeiterin griff diese Parole auf, schlug den aggressiven jungen Leuten vor, sie könnten die Spenden nach Minsk fahren, einen Abenteuerkonvoi riskieren. Das war das Stichwort. Die jungen Männer hatten einen "Kick". Sie fuhren los, wurden in Minsk akzeptiert und herumgereicht. Zurückgekommen, wurden sie auch im Berliner Stadtteil positiv wahrgenommen - zum ersten Mal. Der Kommentar Thea Bauriedls: "Wenn ein Mensch etwas Gutes getan hat, dann ist er viel weniger gefährdet, gewalttätig zu werden."
Das Berliner Beispiel ist exotisch. Es enthält aber zentrale Bedingungen jener politischen Beteiligung, die seit langem von vielen Vertretern öffentlicher Instanzen gefordert wird. Es ist obendrein auch ein Beispiel für ein neues "staatsbürgerliches Engagement". Der wachsenden Verlassenheit Jugendlicher begegnet man nicht mehr beschäftigungstherapeutisch von oben und außen, sondern durch Stimulierung von aktivierender Lebenslust, Selbstständigkeit und spielerischer Gruppenzusammenarbeit.
Könnte das Beispiel der Reise Berlin-Minsk nicht eine Art Mikro-Muster für einen großen, verpflichtenden Aufbaudienst im alten Europa werden?
Wie könnte sich eine politische Motivation der jungen Europäer entwickeln, die Ich-Entwicklung verbindet mit einem Überlebensengagement für den eigenen Planeten? Meine These: Nur im praktischen eigenen Erleben eines solchen europäischen Aufbaudienstes.
Glücklicherweise liegen entsprechende Erfahrungen der klassischen freiwilligen Friedensdienste wie die der "Aktion Sühnezeichen" längst vor. Sie brauchen nur auf alle jungen Bürger in der EU angewandt zu werden. Seit 1959 haben schließlich Tausende von Jungen und Mädchen in den Freiwilligendiensten eine solche Rekonstruktions-Arbeit schon geleistet.
Bundeswehr oder internationale Sozialarbeit? Militärdienst oder ein strikt ziviler Aufbaudienst, mit ökologischen und sozialem Auftrag - ist das die neue Alternative? Mitnichten. Es sollte im neuen Europa vielmehr mehrere Dienste geben, nebeneinander und gleichberechtigt. Konkret sähe das Modell so aus:
Der neue europäische Sozial- und Aufbaudienst sollte fünf verschiedene Arbeitsbereiche anbieten:
Eine spezifische Berufsausbildung während der Dienstzeit mit dem Ziel hoher Fachqualifizierung ist allerdings die Voraussetzung der neuen Dienste, einer der wichtigsten Unterschiede zum heutigen Zivildienst. So würde das Dilettantische vermindert und das Professionelle ermöglicht werden.
Soziale Aufbaudienste dieser Art können natürlich nie die hauptamtliche Sozialarbeit, geschweige denn die öffentlichen Aufgaben der Pädagogik vom Vorschulbereich bis zur Erwachsenenbildung ersetzen. Sie fungieren jedoch vielfach längst als Kriseneingreifdienste, träten also zur staatlichen Sozialpolitik als Hilfsdienste hinzu. Überdies befördern sie die Zusammenarbeit zwischen Profis und Laien und öffnen die althergebrachten Großinstitutionen in Richtung zu mehr Selbsthilfe und Improvisation.
"Arbeit mit Menschen kann nicht verordnet werden", erklärt der Deutsche Caritasverband. "Wir setzen auf Freiwilligkeit", sekundiert das Diakonische Werk. Bundesfamilienministerin Renate Schmidt (SPD), die FDP und die Grünen sagen, in seltener Einigkeit: ohne uns. Hartnäckig wird dabei wiederholt, was die pädagogische Erfahrung schon seit Jahren widerlegt hat, was zahllose empirische Analysen längst eruiert haben: dass man pro-soziale Haltung, ja sogar Empathie eben auch lernen kann.
Ein echter Friedens- und Sozialdienst kann nur mit ganzem Herzen, also freiwillig, geleistet werden? Dieses Argument verkennt den "two-step-flow of motivation", das Nacheinander zweier Lernphasen. Schon in der Schule muss jedes Kind bekanntlich durch staatlichen Zwang mitmachen. Dann aber kommt es darauf an, dass ein junger Mensch Lust bekommt, in der Schulstunde von selbst mitzumachen, die so genannte intrinsische Motivation entwickelt.
Ein solches Prinzip des einladenden Zwanges kennen auch die Zivildienstleistenden. Gerade sie beweisen Tag für Tag, dass ein Höchstmaß an persönlicher Hilfsbereitschaft und echter Zuwendung auch bei anfänglichem Dienstzwang möglich sind.
Demgegenüber die klassischen, die freiwillig begonnenen Dienste. Ihr Dilemma: Sie sprechen die bereits Hochmotivierten an, nicht die 99-Prozent-Mehrzeit. Eliteprogramme für idealistisch Engagierte - das Lieblingsprojekt der linken Aktiven in der Nachkriegszeit und der heutigen Wohlfahrtsverbände. Sie beharren noch immer auf dem längst brüchig gewordenen Vorurteil, soziales Engagement könne nicht durch Pflicht "kaputtgemacht" werden. Nun, die Möglichkeit für ein besonderes freiwilliges Engagement wird in einer Welt, die von Gewalt besessen ist, immer da sein müssen. Diese Möglichkeit aber allein für die verschwindend kleine Zahl der Hochmotivierten offen zu halten, liefe auf eine elitäre Exklusivität hinaus. Heute ist die Zeit reif dafür, die Erfahrung der klassischen Freiwilligendienste allen Bürgern institutionell zugänglich zu machen, ihnen nicht länger vorab schon die Lernfähigkeit abzusprechen.
Seit Jahren ist die Diskussion über Ziele und Methoden schulischer Bildung in Deutschland belastet von der ungeprüften These, die Generation der zwölf- bis 25-Jährigen sei immer selbstbezogener geworden. Von Ulrich Becks Individualisierungs-These (1986) bis zur 14. Shell-Studie von 2002 und den Folgeuntersuchungen wird die Story von der wachsenden Beziehungsunfähigkeit aufgetischt. Eine "Spaß"-Tendenz sei dominant. Das Zerrbild einer Generation ohne Solidarität und ohne politisches Interesse gilt als genereller Befund. Dieser Karikatur vom Solidaritätsschwund in einer ganzen Generation widersprechen aber neuartige Erfahrungen mit sozialem Lernen in Schule und gesellschaftlichen Diensten.
Seit 1992 erproben die Freien Katholischen Schulen in Baden-Württemberg ein breit angelegtes fächerübergreifendes, verpflichtendes Sozialpraktikum. Das Neue an diesem Programm ist die langfristige Zusammenarbeit aller Unterrichtsfächer vor und nach dem drei bis vierwöchigen Praktikum. Die Schüler werden mit extremen Situationen konfrontiert, die im klassischen Unterricht zwar besprochen, aber nie unmittelbar erlebt werden. Sie arbeiten auf Pflegestationen, in sozialen Brennpunkten, mit schwer erziehbaren Kindern, mit Demenzkranken oder in "sozial schwachen" Familien. Die Auswertung der dabei gemachten Erfahrungen zeigt ein überraschendes Resultat. Die Schüler verbuchen ihr Sozialpraktikum für sich als unerwarteten persönlichen Gewinn. Nur widerstrebend beginnen sie das Pflicht-Praktikum, um dann umso begeisterter ihre Eindrücke zusammenzufassen:
"Wir wurden sofort voll akzeptiert. Die Pfleger im Hospital, die Kindergärtnerinnen, die Sonderschullehrer, die haben mich nicht erst mal argwöhnisch betrachtet. Ich wurde vom ersten Tag an wie ein vollwertiges Mitglied im Arbeitsteam ernst genommen. Und ich konnte dann auch, ich weiß nicht wie, das alles, was ich gar nicht kannte."
"Diese Arbeit hat mir wahnsinnig Spaß gemacht. Immer mehr. Ich war richtig dabei. Nein, nicht aus Mitleid; und überhaupt nicht diese scheinheilige Ich-opfere-mich-Haltung. Es war einfach toll, wie alle, ja, richtig zusammenspielten, gerade die Alten."
"Seit langer Zeit zum ersten Mal das Gefühl, mal was richtig Sinnvolles zu tun."
Die Erfahrung der Schüler zeigt, dass Jugendliche durchaus zu sozialem Engagement bereit sind, wenn sie die Möglichkeit dazu bekommen. Sie stellen fest, dass in erster Linie nicht karitatives Mitleid gefragt ist, sondern Einfühlungsvermögen, Freundlichkeit und Geduld. Soziales Engagement und Lust-Erlebnis gehen hier Hand in Hand.
Ein Sozialpraktikum während der Schulzeit, ein Aufbaudienst danach - schön und gut, aber warum verpflichtend? Millionen junger Frauen und Männer umfasst ein Jahrgang der heute 18-Jährigen in der Europäischen Union. Die Hälfte von ihnen wird vielleicht noch einen gesicherten Arbeitsplatz bekommen, prognostizieren Ökonomiefachleute. Ein zweiter Arbeitsmarkt außerhalb des Systems wird ihre vielleicht einzige Chance sein. Dort aber werden unternehmerische Kompetenzen gefragt sein, wie sie jeder in einem solchen Dienstjahr zwischen Schule und Beruf ausbilden könnte.
Ein verpflichtender europäischer Aufbaudienst wäre auch eine Gelegenheit zur Berufsfindung. Keiner der Millionen Jungbürger in der EU weiß heute, ob man später vier oder fünf Berufe haben wird oder überhaupt keinen mehr. Jeder sollte deshalb ein Jahr lang Schlüssel-Qualifikationen ausbilden müssen, technisch-instrumentelle ebenso wie kommunikative, die helfen, selbständig zu überleben und nicht der Demütigung staatlicher Almosen ausgesetzt zu sein.
Prof. Dr. Hans-Eckehard Bahr ist Theologe und Politologe (Forschungsprojekt "Jugendgewalt und Stadtfrieden" an der Ruhr-Universität Bochum).