Jetzt steht Biologie auf dem Stundenplan, und Katharina Dutz, die Lehrerin, fragt: "Was würdest du an dir verändern, wenn du könntest?" Christiane überlegt nicht lange: "Ich hätte gern blaue Augen und nicht so einen Mischmasch wie jetzt." Am Nebentisch bekommt Rüdiger, der sich früher oft mit Mitschülern geprügelt hat, gerade eine Rückenmassage von Sabine Gschwentas. Die Sozialpädagogin ist zusammen mit der Lehrerin für die Betreuung der Klasse verantwortlich. Finden die Jugendlichen solche Massagen nicht seltsam? "Im Gegenteil. Sie brauchen diese körperliche Nähe, und manchmal rutscht ihnen dann noch ein ?Mama' heraus", sagt sie. Ihre Massagen lenken die Schüler nicht vom Stoff ab, sondern sind Teil eines verhaltenstherapeutischen Ansatzes, in dem emotionale Zuwendung, Lob und Anerkennung entscheidend sind.
Seit 2002 bietet "fit for live" für insgesamt 24 Schüler in den Klassenstufen fünf bis acht einen solch speziellen Unterricht an. In dieser "Mini-Schule", untergebracht in einem schmucklosen Wohncontainer-Gebäude mitten in Schwerin, sollen sie wieder Spaß an der Schule und am Lernen finden. "Wenn sie merken, dass wir sie als Person ernst nehmen und nicht als Schüler XY betrachten, dann bleiben sie auch", erklärt Katharina Dutz das Erfolgsgeheimnis. Jeweils eine Lehrerin und eine Sozialpädagogin begleiten die Schüler einer Klasse von der ersten bis zur letzten Schulstunde des Tages. Auf diese Weise werden sie zu festen Bezugspersonen, die den Schülern in der familiären Umgebung oft fehlen. "Meine Mutter hat lange gar nicht gemerkt, dass ich nicht mehr zur Schule gegangen bin", berichtet der 15-jährige Rüdiger. In der Schulwerkstatt paukt er nun nicht das ganze versäumte Biologie-Wissen der vergangenen Jahre. "Es geht nicht in erster Linie um Wissen, sondern um das Erlernen sozialer Kompetenz, um Dinge wie Konzentrationsfähigkeit und Leistungsbereitschaft. Erst wenn diese Basis vorhanden ist, schieben wir das Wissen hinterher", erläutert Sabine Gschwentas die Idee von "fit for life".
Der Auftrag des von der Caritas getragenen und vom Schulamt der Stadt mitfinanzierten Projektes ist klar: Schüler, die bisher als Schulverweigerer galten, wieder in das Regelschulsystem zu integrieren. Mit Zwang funktioniert das nicht, alle Schüler sind freiwillig hier. Mittlerweile gibt es schon eine Warteliste für die wenigen Plätze, von denen jeder 100 Euro am Tag kostet. "Entweder werden wir von der jeweiligen Schule oder aber von der Jugendhilfe angesprochen. Danach reden wir mit den Schülern, die sich nach einer Probezeit entscheiden können, ob sie bleiben möchten", erläutert die Leiterin der Schulwerkstatt, Sieglinde Weißmann, den Weg der Schüler zu ihnen. Manche bleiben ein halbes Jahr, andere zwei Jahre. Abhängig von ihren individuellen Fortschritten besuchen sie nach einer gewissen Zeit wieder stundenweise den Unterricht einer Regelschule. Nach einem Jahr sind es bei Christiane vier Fächer, für die sie regelmäßig "pendelt". Weit ist ihr Weg nicht, denn die Kooperationsschule von "fit for life" liegt gleich auf dem Nachbargrundstück. "Durch diese enge Zusammenarbeit ist es uns möglich, den Entwicklungsprozess der Kinder weiter zu beobachten, auch wenn sie nicht mehr bei uns sind", erklärt Weißmann.
In drei Sonderstunden pro Woche dürfen die Schüler machen, was sie wollen, sich eine Stunde den Rücken massieren lassen oder aber in der angeschlossenen Tischlerwerkstatt mit den ebenfalls zum Team gehörenden zwei Handwerkern von "fit vor life" arbeiten. Bei Regelverstößen allerdings wird ihnen diese freie Zeit genommen, denn auch das gehört zum Konzept: "Die Schüler erleben hier einen ganz ritualisierten Tagesablauf mit festen Regeln und Normen", so Katharina Dutz. Aberkannte Freistunden begreifen die Lehrer daher nicht als Bestrafung, sondern als Teil des Rituals. Nicht um persönliches Versagen geht es hier, sondern darum, das eigene Verhalten zu reflektieren und positive Schlüsse daraus zu ziehen. Ein Umstand, der im regulären Schulbetrieb meistens zu kurz kommt. In der Diskussion um die PISA-Studie wiesen Experten wiederholt darauf hin, dass Fehler von Kindern und Jugendlichen zu selten positiv gewendet und konstruktiv genutzt werden. Statt dessen werden sie von den Schülern als Ausdruck eigenen Versagens interpretiert.
Neben Störungen im sozialen Umfeld oder Angst vor Lehrern und Mitschülern liegt in der Furcht vor Schulversagen eine der Ursachen für Schulverweigerung. Dabei ist das Fernbleiben nur die letzte Stufe einer sehr weit verbreiteten Schulmüdigkeit, die von Unlust zu passiven Formen des inneren Ausklinkens über punktuelles zum regelmäßigen Schwänzen führt. Eine halbe Million deutscher Schüler bleibt dem Unterricht regelmäßig fern.
Auch Rüdiger hat nicht nur den Unterricht geschwänzt, sondern sich vorher schon verweigert: "Ich habe einfach gemacht, was ich wollte und mich oft geprügelt." Im Mittelpunkt wollte er stehen. Zwischen den Kumpels gab es einen regelrechten Wettbewerb um die schlechtesten Noten. Nur Fünfen und Sechsen standen da im Zeugnis. Als er vor zwei Jahren in die Schulwerkstatt kam, wollte er zunächst so weiter machen wie in der alten Schule. "Aber das ging nicht", sagt er, "weil ich dann immer sehr viel darüber schreiben musste und eine Sonderstunde nach der anderen dafür drauf ging." Und, weil ihm seine Lehrerin solche Fragen stellt: "Wie war deine Pause heute, Rüdiger? Was war gut, und was war nicht so gut an ihr?" Nicht nur um Biologie, sondern um die Schüler selbst geht es. In der Herausforderung der Lehrerin, über sich selbst nachzudenken, spüren sie echtes Interesse. Heute hat er in den meisten Fächern eine Drei, und sich zu prügeln findet er nicht mehr interessant. Die Aufmerksamkeit bekommt er auf andere Weise: Bei "fit for life" beginnt jeder Tag mit dem Morgenkreis, einer Stunde, in der die Lehrerin aus einem Buch vorliest, im Hintergrund entspannende Musik läuft und die Schüler ihre Erlebnisse vom letzten Tag berichten. "Das Vorlesen kennen viele Schüler gar nicht, sie holen hier etwas Elementares nach. Dadurch merkt man eine sehr starke emotionale Veränderung bei ihnen", sagt Katharina Dutz.
Die Lehrerinnen sind sich wohl bewusst, dass "fit for life" letztlich nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist. "Wir haben hier keinen Zauberstab", resümiert Sieglinde Weißmann. Und doch setzen sie um, was einige Sozialwissenschaftler schon lange fordern: Lehrer müssten mehr sein als Pädagogen, sie sollten am besten alles in einer Person sein: Lehrer, Therapeut und manchmal auch Elternersatz.
Überfordert wirken die Frauen keineswegs, und der Erfolg scheint ihnen Recht zu geben. "Von den 44 Schülern, die wir bisher hier hatten, konnten wir 38 wieder integrieren, darauf sind wir stolz", sagt Weißmann. Bei 500.000 regelmäßigen Schulschwänzern in Deutschland und einer noch höheren Zahl anderweitig Auffälliger wird jedoch deutlich, wie im Umfang klein dieses Projekt in Schwerin ist. Ihre ambitionierten Lehrer sind wichtig für Christiane und Rüdiger, eine generelle Lösung des Problems liegt jedoch woanders - zu Hause.