Die entschlossene Außenpolitik der USA in den letzten vier Jahre hat die Beobachter vor eine besondere Herausforderung gestellt. Die Administration unter George W. Bush gestaltete eine Politik, die für Freund und Feind klar erkennbar war und die den jüngsten Reden des Präsidenten zufolge auch in den kommenden Jahren Bestand haben wird. Viel ist geschrieben worden über den Hang zum Unilateralismus und zur Selbstgerechtigkeit, über die Rechtfertigung präventiver Kriege und die missionarische Rhetorik zur Verbreitung von Freiheit und Demokratie.
Dennoch bleibt die zentrale Frage unbeantwortet, wie sich diese radikale Politik erklären und mit den Traditionen amerikanischer Außenpolitik vereinbaren lässt. Ist es eine revolutionäre Abkehr von diesen Traditionen, wie Ivo Daalder und James Lindsay behaupten? Oder hat vielmehr John Lewis Gaddis Recht, der in Präemption/Prävention, Unilateralismus und Hegemonialstreben die wahren Traditionslinien amerikanischer Außenpolitik und in George W. Bush einen direkten politischen Nachfahren von John Quincy Adams erkennt?
Lothar Rühl ist einer der großen deutschen Kenner amerikanischer Außen- und Sicherheitspolitik. Sein Buch bietet eine Gesamtschau der amerikanischen Außenpolitik von ihren Anfängen bis heute. Ausgehend von den geografischen und historischen Vorbedingungen der "Neuen Welt" schildert er Schritt für Schritt den Aufstieg Amerikas zur einzigen Weltmacht. Die Erschließung des eigenen Kontinents, die Etablierung der Dominanz über die westliche Hemi-sphäre durch die Monroe-Doktrin, der Stepp-Schritt über den Atlantik und schließlich die siegreiche globale Auseinandersetzung mit dem Sowjetkommunismus werden routiniert nacherzählt.
Nach dieser Pflicht folgt die Kür in Form einer Analyse der gegenwärtigen Position der USA im internationalen System, insbesondere im Hinblick auf die Folgen des 11. September 2001 und des umstrittenen Irak-Krieges. Während im ersten Teil also die historischen Antriebsfaktoren amerikanischer Außenpolitik aufgezeigt werden, fragt Rühl im zweiten, ob diese heute noch Gültigkeit besitzen.
Im historischen Überblick gelingen Rühl viele treffende Feststellungen. So beschreibt er die amerikanische Politik als ein stetiges Streben nach "globalem Sicherheitsgewinn" durch Ausdehnung des freiheitlich-demokratischen Modells. Die neuen Weltordnungen von 1917, 1941 und 1991 sind markante Etappen auf diesem Weg. In diesem Sinne waren die Vereinigten Staaten schon immer eine revolutionäre Macht, die gegen den Status quo aufbegehrte, aber gleichwohl realpolitischen Prinzipien Priorität einräumte, wie die Analyse des neuen Mächtegleichgewichts nach dem Zweiten Weltkrieg zeigt.
Insgesamt gerät die Darstellung der Kontinuitätslinien allerdings zu unübersichtlich. Von der missionarischen und manichäischen Rhetorik John Winthrops, Ronald Reagans und George W. Bushs über Woodrow Wilsons berühmten "Vier Freiheiten" bis zur Nixon-Doktrin und den Warnungen George Washingtons kommen alle Leitmotive amerikanischer Außenpolitik zur Sprache, aber deren stringentere Verknüpfung wäre wünschenswert gewesen. Historische Skizzen und beispielhafte Analysen ergänzen sich zu selten, sondern stehen meist unverbunden nebeneinander - der Verzicht auf eine streng chronologische Darstellungsweise vermindert die Nachvollziehbarkeit der Argumente.
Dementsprechend schwierig gestaltet sich auch die Anwendung der Traditionslinien auf die gegenwärtige Außenpolitik. Die Spannung zwischen idealistischer Rhetorik und interessegeleitetem Engagement im Nahen und Mittleren Osten entspricht demnach bekannten Mustern, aber die Rigorosität und diplomatische Schroffheit der gegenwärtigen amerikanischen Administration bleibt in dieser Darstellung eine unerklärliche und törichte Abweichung. Ratlos wie viele Beobachter fragt der Autor, wie unter diesen Bedingungen die Zukunft des westlichen Bündnisses gelingen kann: "Die Antworten sind unsicher und spekulativ."
Bei aller Kritik an Stil und Inhalt der amerikanischen Politik steht für Rühl fest, dass aus deutscher und europäischer Sicht ordnungspolitisch selbst ein übermäßig starkes, rücksichtsloses Amerika immer einem schwachen, isolationistischen Amerika vorzuziehen ist. Das ist für ihn eine der Lehren der Geschichte, die in diesem belesenen und erfahrungssatten Buch deutlich werden. Wir Europäer sollten es also immer noch mit Winston Churchill halten: "Es ist Verlass darauf, dass die Amerikaner das Richtige tun, nachdem sie alle anderen Möglichkeiten erschöpft haben."
Lothar Rühl
Das Reich des Guten.
Machtpolitik und globale Strategie.
Klett-Cotta: Stuttgart 2005, 366 S.,19,50 Euro
Der Autor ist Doktorand am Seminar für Politische Wissenschaft
der Universität Bonn.