Die Dauerpräsenz des Nationalsozialismus in den Feuilletons, in Fernsehen und Kino gibt ihm zweifellos Recht. Allerdings sollte dies nach Frei kein Grund zur Klage sein, denn selten waren Zeithistoriker medial so gefragt wie heute. Sie sollen nicht nur erklären, wie es in der jüngeren Geschichte eigentlich gewesen ist, sondern müssen auch Rechenschaft darüber ablegen, welche Interessen hinter einer spezifischen Deutung der Vergangenheit stehen - Geschichtspolitik nennt man das seit einigen Jahren.
Mittlerweile steht die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus in der Tat vor dem Problem, dass die Nachgeschichte und der moralisch-politische Umgang mit dem "Dritten Reich" die eigentliche Erforschung der zwölf braunen Jahre in den Schatten zu stellen scheinen. Warum ist das so? Frei sieht unser Verhältnis zur NS-Zeit in einer Umbruchphase, denn mit dem Aussterben der Zeitzeugen verliert die Erinnerung ihre Unmittelbarkeit, die jahrelang formativ für das politische Bewusstsein der Bundesrepublik war.
Was einst fest im kollektiven Gedächtnis verankert war, muss nun durch die Anstrengungen des kommunikativen Gedächtnisses erst hergestellt werden. Darin liegen Chance und Schwierigkeiten. Zum einen kann der Historiker ohne Rücksicht auf Täter und Mitläufer, Opfer und Widerständler vorurteilsfrei seinen Fragen nachgehen. Zum anderen ist der Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus die vormals existentielle Selbstverständlichkeit genommen. Schon heutigen Schülergenerationen bleibt der "Führerstaat" ähnlich fremd wie der Vormärz; er gehört nicht mehr zur "Zeitgeschichte der Mitlebenden" (Hans Rothfels). Es wird daher immer schwieriger, der didaktischen Aufgabe nachzukommen, die die Staatsraison der Bundesrepublik von Beginn an geprägt hat: der mahnenden Vergegenwärtigung der NS-Verbrechen.
Als reflektierender Historiker beharrt Frei auf den Pflichten seiner Zunft, die Vielfalt der Perspektiven und Fragestellungen zu pflegen, ohne sich didaktischen Leitlinien zu unterwerfen. Mit sicherem Blick dekuvriert er die Abgründe geschichtspolitischer Einseitigkeiten und historisiert der NS-Historiographie der alten Bundesrepublik, die lange Zeit eine Geschichtsschreibung von Zeitgenossen gewesen ist. Statt gesellschaftliche Verantwortlichkeiten zu erforschen, flüchteten sich die "Funktionalisten" in Strukturen. Statt ideologische Anfälligkeiten sozialer und politischer Milieus zu kennzeichnen, wiesen die Intentionalisten der Weltanschauung Hitlers ihren dämonischen Drang zur Selbstverwirklichung nach.
Die frühe Geschichtsschreibung über die NS-Diktatur kam mit auffallend wenigen handelnden Personen aus, und die Verflechtung der wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und gesellschaftliche Eliten in das verbrecherische Herrschaftssystem ist erst seit einigen Jahren ein prominentes Forschungsthema. Die Popularität des Regimes blieb hingegen lange ein "kollektives Geheimnis", während die "Katastrophe" deterministisch aus der "Machtergreifung" oder aus dem unvermeidlichen "Untergang" erklärt wurde.
Frei lehrt den Leser in seinen pointierten Essays, gepflegte Geschichtsmythen in ihrem Ursprung zu verstehen. Stalingrad war eben nicht die eigentliche Kriegswende, sondern auch das von der NS-Propaganda in Szene gesetzte Drama, als die aussichtslose Lage nicht länger kaschiert werden konnte; die "Volksgemeinschaft" war zwar keine nationalsozialistische Wirklichkeit, aber eine verheißungsvolle gesellschaftspolitische Parole, die ihre Wirksamkeit bis in die frühe Bundesrepublik behielt.
Freis Plädoyer für ein aufgeklärtes Geschichtsbewusstsein ist auch deshalb so aktuell, weil in jüngster Zeit - als letzte Regung der Zeitgenossen - eine emotionale Erschließung der eigenen deutschen Opfergeschichte an Gewicht gewonnen hat. Bombenkrieg, Vertreibung und Besatzungsleid drohen neuerdings bisweilen die tatsächlichen Zusammenhänge zu verwischen. Eine entpolitisierte "Familiengeschichte" scheint dabei kompensatorisch offiziöse Gedenkriten zu unterlaufen und so eine neue Vielfalt der Erinnerung zu etablieren.
"Narrative der Pluralisierung" nennen Leggewie und Meyer diese Produkte einer neuerlichen Hinwendung zur "gefühlten Geschichte der Bundesbürger". Dagegen soll der aus der Erbmasse der Bonner Republik stammende Plan eines Holocaust-Mahnmals für geschichtspolitische Kontinuität sorgen und ein politisch-didaktisches Gegengewicht schaffen. Die langwierige Debatte um dieses Bauvorhaben zeichnen Leggewie und Meyer in aller Ausführlichkeit nach.
Anhand der Mahnmal-Kontroverse zeigen sie, dass Geschichtspolitik in einer Demokratie wie jede andere "Policy" durch "Agenda-Setting" implementiert wird. Sie akzeptieren den Kompromisscharakter eines solchen Aushandlungsprozesses als genuin demokratisch, da die verschiedenen Initiativen und Akteure jeweils dazu gezwungen waren, von ihrer Ursprungsidee abzuweichen und auf nicht-intendierte Nebeneffekte zu reagieren. Die geschichtspolitischen Fronten der 80er- Jahre lösten sich in diesem Prozess auf. Helmut Kohl entwickelte sich spätestens seit seinem Alleingang zur Neugestaltung der Neuen Wache zu einem Befürworter des Mahnmals, das er Ignatz Bubis in die Hand versprach, während sich einige Mitglieder der rotgrünen Bundesregierung wie Kulturstaatsminister Naumann anfangs vor allem als entschiedene Kritiker artikulierten. Gerhard Schröder schließlich tat den flapsigen Ausspruch, er wünsche sich das Mahnmal als einen "Ort, an den man gerne geht".
Gerade vor dem Hintergrund, dass der Holocaust seine handlungs- und identitätsstiftende Funktion im Politischen zunehmend verliert, verteidigen die Autoren das Mahnmal, das sich in einer veränderten Erinnerungslandschaft bewähren muss: "Es erinnert an ungeheure Verbrechen, soll aber selbst kein Ort des Schreckens sein." Ihre Rede von der "Konsumentensouveränität" der künftigen Besucher mag dagegen manchem begrifflich unangemessen erscheinen. Wenn das Autorengespann überdies - mit dem Kanzler - dazu beitragen will, "dass man dieses Mahnmal im beschriebenen Sinne gerne aufsucht", zeigen sich die Aporien geschichtspolitischer Parteinahme: War man von der Singularisierung der Shoah jahrelang "zu Recht überzeugt", so gilt es nun, mit der "in der Regel ungewollten" Relativierung und Relationierung deutscher Schuld umzugehen.
Nicht nur eine transnationale Perspektive, die die europaweite Dimension des Vernichtungskrieges problematisiert, sondern auch die Infragestellung der vieldiskutierten Opferhierarchie und die vielfach angeregte vergleichende Genozidforschung stellen tradierte Muster des Umgangs mit dem Holocaust in Frage. Daraus wird ersichtlich, dass die Anforderungen für den künftigen Umgang mit den nationalsozialistischen Verbrechen in der Bundesrepublik zu komplex sind, um sich eine "Rhetorik der Platitüden" (Frei) leisten zu können.
Norbert Frei
1945 und wir.
Das Dritte Reich und die Deutschen.
Verlag C.H. Beck, München 2005; 224 S., 19,90 Euro
Claus Leggewie / Erik Meyer
"Ein Ort, an den man gerne geht."
Das Holocaust Mahnmal und die deutsche Geschichtspolitik nach 1989.
Carl Hanser Verlag, München 2005; 352 S., 24,90 Euro
Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für
Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität Berlin.