Als die europäischen Staats- und Regierungschefs im März 2000 die ehrgeizigen Ziele der Lissabon-Strategie formulierten, waren ihre Blicke auch auf Amerika gerichtet. Denn in Sachen Wirtschaftswachstum und Schaffung von Arbeitsplätzen hätten die Europäer die USA bis 2010 nur zu gerne überflügelt.
Im Rahmen der "Hayek Serie" - einem Brüsseler Politik-Forum, benannt nach dem österreichischen Nobelpreisträger Friedrich von Hayek, zogen vor kurzem namhafte Europäer und amerikanische Beobachter der Lissabon-Agenda Bilanz. "Wenn sich eine Firma am Markt als nicht konkurrenzfähig erweist, geht sie bankrott. Wenn sich Europa im globalen Wettbewerb als nicht konkurrenzfähig erweist, dann wird einfach eine neue Vision aufgestellt", kritisierte der einstige EU-Kommissar Frits Bolkestein. Er sieht Europas hohe Anforderungen an den Schutz von Arbeitsplätzen sowie Umweltschutzbedingungen massiv bedroht durch das amerikanische "Power-Haus" im Westen und die "aggressiven Niedriglohnkosten-Länder" im Osten, Russland und Asien. Darauf müsse man seiner Meinung nach mit "verbesserter Dienstleistung" innerhalb der EU reagieren. Bolkestein meint damit zum Beispiel die Bezahlung polnischer oder türkischer Arbeiter nach dem Lohnniveau ihrer Herkunftsländer, nicht nach dem ihrer Gastländer.
Die gleiche Meinung vertrat der einstige Ministerpräsident von Estland, Mat Laar. Mit Blick auf Deutschland und Frankreich sagte Laar vor den Teilnehmern: "Einige Länder erfüllen die Ziele der Lissabon-Agenda schlechter als andere. Das größte Problem der Agenda sind die hochtrabenden Absichten. Aber die Taten fehlen, wohin man blickt." Der Este weiß, wovon er spricht. Als Regierungschef bewirkte er mit strikter freier Marktwirtschaft, niedrigem Steuersatz und Hochtechnologie für sein baltisches Land einen mächtigen Wirtschaftsboom, der in Europa seines Gleichen sucht.
Selbst der deutsche Sozialdemokrat Günther Verheugen überraschte Anfang des Jahres in Brüssel mit seinen "Vorstellungen für künftige EU-Vorschriften". Verheugen versprach, er würde "daran arbeiten, überzeugende Rahmenbedingungen für eine blühende europäische Wirtschaft" zu schaffen. Bezug nehmend auf EU-Vorschriften für die Autoindustrie, kündigte Verheugen an, für kein Unternehmen in der EU solle mehr gelten, "dass die Kommission ehrgeizige Auflagen für bestimmte Industriezweige verabschiedet ohne überhaupt zu wissen, welche Auswirkungen diese Auflagen und Vorschriften auf die Unternehmen, ihre Kosten und die Arbeitsplätze haben". Er sei bereit, mit der Vergangenheit zu brechen, wenn es darum gehe, Überregulierungen der EU abzuschaffen, sagte Verheugen. Auf dieses Versprechen Verheugens bezog sich während der Hayek-Konferenz der Chef von TechCentral Station, James K. Glassman, aus Washington D.C. Er erklärte an einem praktischen Beispiel, was für einige Amerikaner befremdlich sei, wenn sie nach "Europa" blicken. So stellte Glassman fest, dass die einst in der Welt führende europäische Pharma-Industrie zunehmend zurückfalle. Noch vor zehn Jahren habe die US-Pharma-Industrie nur 70 Prozent der vergleichbaren europäischen Forschungsgelder ausgegeben. Heute sei der Prozentsatz genau umgekehrt.
Glassman hat dafür eine Reihe von Erklärungen: Laut EU-Vorschriften sei es der Pharma-Industrie in der Gemeinschaft untersagt, für neue Produkte zu werben. Noch nicht einmal auf der eigenen Internet-Website sei dies erlaubt. Amerikaner halten diese Einschränkung der Informationsfreiheit für "extrem verbraucherfeindlich".
Glassman weiter: "Wenn die europäischen Gesellschaften immer älter werden und somit die Bürger der EU wohl wieder länger arbeiten müssen, bedarf es einer beträchtlich besseren Gesundheitspolitik als bisher, damit diese Menschen auch tatsächlich länger fit bleiben. Dazu zählt natürlich auch eine freie Informationspolitik im Gesundheitswesen." Viele Amerikaner wundert es, dass die meisten europäischen Staaten im Gesundheitswesen eine Politik des "emergency management" (Notfall-Management) betreiben. Schon alleine der immer noch sorglose Umgang mit dem Rauchen zeige: nicht bevor ein Mensch krank ist, kümmere man sich um seine Gesundheit. In den USA hingegen, wo seit Jahren eine hartnäckige und in jeder Beziehung offene Aufklärungspolitik betrieben wird, ist das Rauchen signifikant zurückgegangen. Sprüche auf Zigarettenpackungen allein seien keine ausreichende "Informationspolitik", solange den EU-Bürgern der Zugang zu anderen Informationsquellen im Gesundheitssektor versperrt werden, prangerte Glassman an.
Dieser Argumentation stimmten auch zwei sozialistische Abgeordnete des Europa-Parlaments (MEP) zu. Während sich der spanische MEP Manuel Medina Ortega in seiner Kritik allgemein hielt - die Lissabon-Agenda versuche das "Paradies auf Erden zu schaffen" und sei deshalb schon "unmöglich zu erfüllen" - fand der britische MEP Peter Skinner deutlichere Worte. Skinner bezeichnete die EU als "Weltmeister in Verordnungen". Er stimmte Glassman zu, dass insbesondere zur Verbesserung der Gesundheitsaufklärung in Europa auch das Verbot der Werbung für Pharma-Produkte abgeschafft werden müsse. "Wenn wir Verordnungen und Verbote verkaufen könnten, wären wir wohl der reichste Wirtschaftsblock der Welt", so Skinner.