Bei einem muslimischen Vater, dessen Tochter nachts und heimlich ihre Koffer packt, um die Familie zu verlassen, muss man mit dem Schlimmsten rechnen. Es geht nicht nur um das Verschwinden der Tochter, es geht um die Familienehre und am Ende um die des Patriarchen selbst. Einige dieser Geschichten enden mit dem Tod und dem Wort "Blutrache" in den Überschriften der Zeitungen; erst kürzlich wurde eine junge Berliner Türkin vermutlich von ihren Brüdern auf der Straße hingerichtet. Mit drei Schüssen wurde sie nieder gestreckt. Shebnam hat es zu Papatya geschafft, einer anonymen Kriseneinrichtung für junge Migrantinnen, dem geheimen Berliner Haus. Papatya ist eine von Berliner Senat finanzierte Zwischenstation für muslimische Mädchen, die ihnen nach der Flucht von zu Hause Schutz vor ihrer Familie bietet. Sie hilft, ihr neues Leben ohne die Familie zu ordnen.
Der erste Schritt ist ein Anruf. Wenn Corinna Ter Nedden, Psychologin bei Papatya, ein Ersttelefonat führt, geht es weniger um die häuslichen Probleme, sondern um die Frage: "Brauchst du Schutz? Wie wird deine Familie reagieren?" Und darum, ob das Mädchen mit den strengen Regeln im "Weglaufhaus" leben kann: Kein Handy, kein Telefon, kein Besuch, dafür Hausarbeit und geregelte Ausgangszeiten. "Das ist zum Schutz der Mädchen", sagt Corinna Ter Nedden, "und auch, um Eltern zu zeigen, dass die Töchter unter Kontrolle sind, dass sie nicht abgehauen sind, um in Discos zu gehen oder herumzuhuren". Shebnam hat das akzeptiert. Für die 20-Jährige ist das keine große Umstellung. Die Wohnung der Eltern durfte sie nur verlassen, um in die Schule zu gehen. Freunde waren ohnehin nicht erlaubt, jedes Telefonat musste sie sich von den Eltern genehmigen lassen, Geld hatte sie keins. Ein Lehrer hat ihr das Zugticket nach Berlin bezahlt. Abends hat sie dann ein paar T-Shirts, den Pass und ihre liebsten Fotos in eine kleine Tasche gepackt und ist nach Berlin gefahren. Weit weg. Weit weg von Bayern, wo sie vorher gewohnt hat. "Wenn ich nach München gegangen wäre", sagt Shebnam, "hätte mein Vater mich dort finden können." Ein anderer Gedanke war: "Hoffentlich verstoßen die mich." Dann wäre sie für ihre Familie gestorben, und Schluss. Aber Shebnam ist nicht verstoßen worden. Ob das gut oder schlecht ist, wird sich zeigen.
Shebnam sitzt in einem Berliner Café. Sie sieht nicht aus, wie jemand, der auf der Flucht ist, eher nach geordneten Verhältnissen: Schwarzer Anorak, brauner Pullover, darüber ein langer schwarzer Zopf, darunter eine unauffällige Hose. Ihr Gesicht bleibt unbewegt, wenn sie die Geschichte erzählt, die sie bis vor kurzem nur unausgesprochen mit sich herumgetragen hat: Ein prügelnder Vater spielt darin die Hauptrolle, die Frauen der Familie sind die Nebendarsteller. Ehefrau und Töchter kreisen um das männliche Familienzentrum, kochen, waschen, putzen, die Kinder werden geschlagen. Mal mit der Hand, mal mit Gürtel, mal mit einem dünnen Stab, der in türkischen Haushalten zum Teigausrollen benutzt wird. Warum? Shebnam findet keine Antwort. Wenn sie ihrem Vater Tee gebracht und dabei etwas verschüttet habe zum Beispiel, aber meistens einfach nur so. Nein, ihr Vater war nicht arbeitslos, nicht Alkoholiker. "Ich war sein Punching-Ball", sagt sie, und das muss für sie und andere als Erklärung reichen.
Dass Gewalt in türkischen Familien auch ein kulturelles Phänomen ist, glaubt der Kriminologe Christian Pfeiffer. Eine seiner Studien hat gezeigt, dass jeder 5. türkische Jugendliche familiäre Gewalt erlebt. Die Gewaltbereitschaft steigt, je länger die Migranten in Deutschland leben. Pfeiffer sieht den Grund in einem Zusammenbruch der traditionellen Strukturen: "Die Familie wird so zum Austragungsort von wachsenden Konflikten, in denen ein Teil der Väter unter Einsatz körperlicher Gewalt versucht, eine traditionelle Ordnung aufrecht zu erhalten." Um die traditionelle Ordnung geht es nicht nur in vielen türkischen, sondern auch in Familien anderer Herkunft. Die rund 60 Mädchen, die jedes Jahr bei Papatya betreut werden, kommen zwar zum Großteil aus der Türkei, aber auch aus dem Libanon, Pakistan oder Ex-Jugoslawien. Der wohl größte Übergriff auf ihre Selbstbestimmung ist die Zwangsheirat: ein Drittel der Papatya-Flüchtlinge ist vor der eigenen Hochzeit geflohen. Die Eltern haben ihnen im Urlaub in der Türkei gesagt: "Morgen ist ein großes Fest - deine Hochzeit." Eines der Mädchen hat zufällig bei ihren Eltern Einladungen für die eigene Hochzeit entdeckt. Die Bräute sind oft noch minderjährig, aber wenn ein Hoca, ein islamischer Geistlicher die Trauung vollzieht, dann wird die Ehe in der islamischen Gesellschaft akzeptiert. Auch importierte Bräute landen mitunter bei Papatya, junge Musliminnen, die nach Deutschland verheiratet worden sind. In Deutschland erwartet sie statt der ersehnten Freiheit ein Gefängnis: Der Sprache nicht mächtig, leben sie in totaler Abhängigkeit von ihrem Mann und seiner Familie. Andere flüchten vor sexuellem Missbrauch. Der kommt zwar in allen Kulturen vor, wird aber in der muslimischen Gesellschaft noch zusätzlich durch den Keuschheitsanspruch verschärft. "Die Mädchen werden nicht nur missbraucht", erzählt Corinna Ter Nedden, "sondern bekommen dann auch noch zu hören: Du Hure hast dich entjungfern lassen."
Der Widerspruch zwischen Schein und Sein kann Identitäten zerreißen. "Ich habe ein Doppelleben geführt", sagt Shebnam. Morgens in der Schule konnte sie sagen, was sie gedacht hat, zu Hause hat sie kaum gesprochen. Verschwand in der Rolle der braven Tochter, die ihre eigenen Bedürfnisse draußen vor der Wohnungstür lässt und dem Vater drinnen die Pantoffel vor den Fernseher stellt. Prügel bekam sie trotzdem, geredet hat sie nicht darüber. Und die Mutter? Die sei von Natur aus eher schüchtern, sagt Shebnam: "Der war wichtig, dass wir nach außen wie ein heile Familie aussahen." Kein Außenstehender konnte ins Innere der Familie hinein schauen, aber umgekehrt konnte die im Haus gehaltene Shebnam auch nicht in andere Familien hineinsehen: "Ich dachte, das wäre alles normal." Erst als sich vor zwei Jahren neue Freunde fanden, kamen die Zweifel: "Ich merkte plötzlich, dass die anderen gern nach Hause gingen, ich dagegen war froh, wenn nachmittags Unterricht war." Als sie 17 war, ist sie dann das erste Mal von zu Hause weggelaufen, damals in eine Einrichtung des Jugendamtes. Die Mutter versprach ihr, sie könne bei der Oma leben so lange sie wolle. Nach einer Woche holten die Eltern Shebnam wieder nach Hause und noch eine Woche später war wieder alles beim Alten.
Auch von den Papatya-Mädchen kehrt gut die Hälfte wieder nach Hause zurück. Gerade weil sie aus einem Kulturkreis kommen, in dem die Familie die wichtigste Einheit ist, die sie von der Umwelt abschirmte, halten sie den harten Schnitt und die Isolation oft nicht aus. Die Trennung von der Mutter, die Angst um die Geschwister, die Schuldgefühle, die Zweifel, das Gefühl, alleine in der Welt zu stehen. Und die Familien machen den Ausreißerinnen mächtig Druck zurückzukehren, bevor die Schande ihres Weglaufens den Nachbarn bekannt wird. Wenn Papatya-Mitarbeiterinnen wie Corinna Ter Nedden Kontakt zu ihnen aufnehmen, um nach Lösungswegen zu suchen, hören sie immer wieder abenteuerliche Geschichten: Die Oma läge im Sterben, die Mutter sei im Krankenhaus oder würde sich vom Balkon stürzen, der Vater die Scheidung einreichen, wenn die Tochter nicht zurück kommt. Oder die Mütter weinen hemmungslos, wenn sie mit der verschwunden Tochter telefonieren. So wie Shebnams Mutter. "Sie hat immer geweint, was ich ihr angetan hätte und wie schrecklich das für sie wäre", sagt Shebnam, "aber kein einziges Mal gefragt, wie es mir geht."
Mit der Zeit sei sie da einfach härter geworden, habe versucht weniger verletzlich zu sein. Shebnam hat sich entschieden: Sie wird nicht zurückkehren. Sie wird sich eine Wohnung und einen Studienplatz in Berlin suchen und ein neues Leben anfangen. Corinna Ter Nedden und ihre Kolleginnen werden ihr dabei helfen. Die Zuständigkeiten bei den Ämtern klären, eine Betreuung für die erste Zeit organisieren. Ihre Entscheidung wird Shebnam, sollte sie tatsächlich keinen Kontakt mehr mit ihrer Familie haben, ein Leben lang begleiten. Zu eng sind die verwandtschaftlichen Bindungen durch die deutsche Gesetzgebung geknüpft. Ob man Bafög oder Sozialhilfe beantragen will, immer sind die Eltern mit dabei. Noch schwieriger ist es bei Mädchen, die ihre amtliche Identität auflösen müssen, weil sie nach der Flucht vor einer Zwangsheirat mit Blutrache bedroht und verfolgt werden. Eine Namensänderung ist zwar möglich, aber amtlich bleibt der alte mit dem neuen Namen an einigen Stellen verknüpft. "Wir bräuchten eine Art von Zeugenschutzprogramm, dass Anonymisierung möglich macht", sagt Corinna Ter Nedden. Sicher, ein Gesetz gegen Zwangsheirat sei ein wichtiges Signal, aber noch wichtiger sei es, Schutzmaßnahmen möglich zu machen. Außerdem wünscht sie sich mehr Aufklärung bei Gerichten und Jugendämtern: "Die glauben häufig, sie hörten Geschichten aus 1001 Nacht." Vielleicht auch, weil in vielen Köpfen das Bild vorherrscht, solche Schicksale seien ein Auswuchs des religiösen Fundamentalismus. "Wenn eine Mutter ohne Kopftuch zum Jugendamt kommt, denken die oft, dass die Geschichte der Tochter nicht stimmen kann", sagt Corinna ter Nedden, "Orientierung an der Ehre muss aber nicht religiös motiviert sei."
Die Mädchen bei Papatya entsprechen nicht dem Klischee, das Deutsche sich vom eingeschüchterten Kopftuchmädchen machen, tragen Jeans, Turnschuhe, Piercings und die Haare offen. Der Umkehrschluss, dass in religiösen Familien Gewalt, Missbrauch und Zwangsheirat nicht vorkommen, ist trotzdem nicht richtig. "Wir wissen einfach nichts darüber", sagt Corinna Ter Nedden. In vielen Fällen weiß sie auch nicht, was aus ihren Schützlingen geworden ist. Die, die in ihre Familien zurückkehren, verschwinden in der Regel wieder so lautlos, wie sie gekommen sind. Es sei, denn sie starten später noch einmal einen zweiten Versuch und kehren zurück in das Weglaufhaus - dann ist die Entscheidung in der Regel endgültig. Auch wenn der neue Lebensanfang aus dem Nichts heraus für jede Einzelne eine große Herausforderung ist, einige schaffen es. Den Bruch mit der Familie durchzuhalten, einen Beruf und eine Wohnung zu finden, einen Mann, den sie sich aussuchen. Es ist möglich, das neue Leben. Shebnam glaubt, dass auch sie es schaffen wird. Und vielleicht, wenn einige Zeit vergangen ist, auch mit ihrer Familie Frieden zu schließen.