Auch Kommissionspräsident José Manuel Barroso zeigte sich überaus zufrieden mit den Ergebnissen. Damit sei der Beweis erbracht, dass die Union auch mit 25 Mitgliedstaaten voll handlungsfähig sei. Zuvor hatten sich die Staats- und Regierungschefs darauf verständigt, die vor fünf Jahren in Lissabon beschlossene Wachstumsstrategie für mehr Arbeitsplätze und eine verbesserte Wettbewerbsfähigkeit Europas neu zu beleben und die Anstrengungen der Mitgliedsstaaten zur Erreichung dieses Zieles stärker zu überwachen. Die bereits am Tag zuvor von den EU-Finanzministern erreichte Einigung über die Reform des Euro-Stabilitätspaktes wurde abgesegnet. Bei der umstrittenen Dienstleistungs-Richtlinie wurde beschlossen an der bereits vom früheren EU-Kommissar Bolkestein eingebrachten Vorlage festzuhalten.
Der Dienstleistungsrichtlinie komme nach wie vor eine "bedeutende Rolle für eine leistungsfähige und dynamische Europäische Wirtschaft" zu, auch wenn die vorliegende Fassung den Anforderungen noch "nicht im vollen Umfang gerecht werde", heißt es in der Schlusserklärung. Vor allem in Frankreich und Deutschland war erhebliche Kritik an der geplanten Ausweitung der Dienstleistungsfreiheit in der EU laut geworden. Und sie drohte sogar, das in Frankreich anstehende Referendum zur EU-Verfassung zu gefährden. In der Öffentlichkeit war kritisiert worden, die Richtlinie könne bei der weitgehenden Öffnung des Dienstleistungsmarktes zu einem Lohn- und Sozialdumping in Ländern mit hohen sozialen Standards führen.
Daraufhin vereinbarten die Regierungschefs, dass im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens zwischen Ministerrat und Europäischem Parlament Änderungen vorgenommen werden sollen. Geplant sind offenbar schärfere Definitionen der bereits in der Richtlinie enthaltenen Schutzklauseln.
Umstritten ist vor allem das so genannte Herkunftslandprinzip. Danach können Anbieter von Dienstleistungen in jedem anderen EU-Land nach den Vorschriften und Regeln ihres Heimatlandes arbeiten. Auf dieser Grundlage der gegenseitigen Anerkennung von Gesetzen der anderen Partnerländer ist der ungehinderte Wettbewerb im europäischen Binnenmarkt aufgebaut. Und wie Kommissionspräsident Barroso anschließend vor der Presse sagte, dürfe sich daran auch nichts ändern.
Die vagen Entschärfungsabsichten ermöglichen es jedem Regierungschef seine speziellen Wünsche als Gipfelaussage zu "verkaufen". So sagte Bundeskanzler Gerhard Schröder, die Richtlinie werde grundlegend geändert, weil bisher keine Balance zwischen Öffnung der Märkte und sozialer Verantwortung gegeben sei. Und Frankreichs Präsident Chirac konnte beteuern, dass er nach wie vor gegen das Prinzip des Ursprungslandes sei und so den Schulterschluss mit den Protestierenden in Frankreich üben.
Bei dem eigentlichen Gipfelthema, der Neubelebung der Lissabon-Strategie von 2000, beschlossen die EU-Staats- und Regierungschefs, mit einem weiteren Maßnahmenpaket die Wettbewerbsfähigkeit Europas zusätzlich zu stärken, um so für mehr Wachstum und Beschäftigung zu sorgen. Insbesondere Forschung und Entwicklung soll dabei zukünftig eine größere Bedeutung zukommen. Beim Lissabon-Gipfel hatten sich die EU-Staats- und Regierungschefs zum Ziel gesetzt, Europa bis zum Jahr 2010 zur weltweit wettbewerbsfähigsten Region zu entwickeln. Jetzt mussten sie jedoch zugestehen, dass es auf diesem Weg Schwachstellen und deutliche Rückstände gibt.
Forschung, Bildung und Innovation sollen daher weiter vorangebracht werden. Zur Unterstützung und zur Bündelung von Kompetenz und Wissen aller Kräfte der Einzelstaaten soll ein europäisches Technologie-Institut aufgebaut werden. Angemahnt wurde erneut der Abbau von bürokratischen Strukturen in den Mitgliedstaaten, um vor allem kleinere und mittelgroße Unternehmen nicht in ihrer Innovationskraft und damit bei der Schaffung von Arbeitsplätzen zu behindern.
Da die Verantwortung zur Umsetzung der Wachstumsstrategie fast ausschließlich in der Verantwortung der Mitgliedstaaten liegt, werden die mangelnden Fortschritte der letzten fünf Jahren dem zu geringen Engagement der nationalen Regierungen angelastet. Die Regierungen sollen deshalb eigene konkrete Reformprogramme erstellen und deren Bilanz an die EU-Kommission übermitteln, die daraus weitere Initiativen erarbeiten soll. Dem Wunsch des für die Lissabonstrategie verantwortlichen Kommissars Günter Verheugen nach Berufung eines speziellen Lissabon-Koordinators folgten die Regierungschef nicht. Denn trotz der Gefahr, dass auch die nächste Überprüfung der Lissabon-Strategie nicht zufriedenstellend ausfallen könnte, wollen sich viele Länder von Brüssel nicht zu genau in die Karten schauen lassen.
Bei der Reform des europäischen Stabilitätspaktes konnte sich Deutschland bereits zwei Tage zuvor beim Rat der Finanzminister unerwartet mit seinen beiden wichtigsten Forderungen zur Anwendung des Paktes durchsetzen. In den vergangenen Jahren hatte sich Hans Eichel dort regelmäßig wegen seiner übermäßigen Schuldenpolitik rechtfertigen und harte Kämpfe durchstehen müssen, um die vertragsgemäß vorgesehenen drastischen Strafmaßnahmen der Union abzuwenden. "Sie sehen einen ausgesprochen zufriedenen deutschen Finanzminister vor sich", hatte Eichel nach der fast zwölfstündigen Diskussion erklärt.
Nach der dort erzielten Einigung, die von den Staats- und Regierungschefs ohne weitere Beratungen auf dem Gipfel abgesegnet wurde, werden sowohl die Kosten für die deutsche Einheit als auch die Beiträge Berlins zum EU-Haushalt künftig bei der Beurteilung des deutschen Staatsdefizits berücksichtigt. Im Vorfeld des Treffens hatte der Luxemburger EU-Ratspräsident Jean-Claude Juncker dies noch als nicht durchsetzbar zurückgewiesen. Zwei Tage zuvor hatte Bundeskanzler Schröder bei seinem Besuch in Wien zu dem Umschwung beigetragen. Denn der schärfste Gegner der deutschen Forderungen, Österreichs Finanzminister Grasser, der das Berliner Ansinnen noch wenige Stunden vorher als "Treppenwitz der Geschichte" zurückgewiesen hatte, war im letzten Moment von Bundeskanzler Schüssel zu Wohlverhalten gedrängt worden.
Ermöglicht wurde die Einigung schließlich durch eine sehr allgemeine Formulierung, nach der Sonderbelastungen durch die "Vereinigung Europas" berücksichtigt werden können, wenn sie sich nachteilig auf Wachstum und Finanzen eines Landes auswirken. Gleiches gilt für Zahlungen, die der Erhöhung oder Beibehaltung eines hohen Niveaus an finanziellen Beiträgen zur Stärkung der internationalen Solidarität und zum Erreichen der europäischen Politiken dienen. In dieser Aussage konnten alle Beteiligten ihre Erwartungen an den Stabilitätspakt wieder finden.
Frankreich sieht darin seiner Forderung nach Berücksichtigung von Forschungsausgaben und Entwicklungshilfe erfüllt. Und Deutschland kann so seine Nettobeiträge zum Haushalt der EU deklarieren. Dieser Wortlaut hat aber zugleich Spekulationen wieder aufleben lassen, Eichel habe sich die Lockerung des Stabilitätspaktes mit Zugeständnissen beim deutschen EU-Beitrag erkauft. Zusammen mit anderen Ländern hat Deutschland zuletzt eine beträchtliche Reduzierung des EU-Haushaltes und der eigenen Nettozahlungen verlangt. Die Verhandlungen über die künftige Finanzausstattung der Union sollen im Juni abgeschlossen werden.
Als Freibrief für Defizitsünder soll der reformierte Pakt nach dem Willen der Minister allerdings nicht verstanden werden. Auch unter Berücksichtigung von Sonderbelastungen dürfen die darin festgelegten Kriterien nur "geringfügig" und "vorübergehend" überschritten werden. Der Vorwurf, der Stabilitätspakt werde durch die Neuregelung aufgeweicht, wurde auch von den obersten Währungshütern der Europäischen Zentralbank in Frankfurt geäußert. Sie fürchten, dass damit in Europa künftig eine stärkere Antiinflationspolitik gefahren werde, womit der dringend benötigte Schub für Europas lahmende Konjunktur an dieser Front ausbliebe.