Eine schöne Gleichzeitigkeit: Der Bundestag gedenkt Otto von Bismarcks, und im Plenum, als ganz normaler Bundestagsabgeordneter, sitzt: Otto von Bismarck. Der Enkel wird besonders aufmerksam registriert haben, was Bundeskanzler Ludwig Erhard (CDU) über seinen großen Vorfahren zu sagen hatte.
Anlass zu dieser Feierstunde am 1. April 1965 war der 150. Geburtstag eines Mannes, der etwas verwirklicht hatte, wovon auch viele Bundespolitiker in jenen Jahren träumten: die Einheit Deutschlands. Die freilich schien 1965 weit weg. Seit gut vier Jahren teilte die Mauer die einst stolze preußische Hauptstadt Berlin. In einer solchen, völlig veränderten welt- und deutschlandpolitischen Lage den Begründer des Deutschen Reiches Otto von Bismarck zu würdigen, hatte eine symbolische Funktion, die weit über die Person hinaus wies. Das unterstrich auch der Kanzler: "Indem wir Bismarck ehren, bekennen wir uns zu unserer Geschichte."
Ein Bekenntnis zu Nationalismus und Militarismus meinte Erhard damit jedoch nicht. Nach einer kriegerischen und gewaltsamen ersten Jahrhunderthälfte, die ihre Ursache auch in einem pervertierten Nationalismus hatte, befand sich Europa auf dem Weg zu einer friedlichen Konsolidierung. Krieg als Mittel der Politik war, im Gegensatz zur Epoche Bismarcks, geächtet. Auch um einem gesteigerten Nationalismus entgegen zu wirken, strebten die Staaten Westeuropas eine Europäische Union an. Die Römischen Verträge von 1957 sollten ein erster Schritt in diese Richtung sein.
Ludwig Erhard mahnte vor diesem Hintergrund und den künftigen Herausforderungen, den mit Bismarck verbundenen "großen geschichtlichen Horizont" nicht aus den Augen zu verlieren: "Wir brauchen ihn, nicht nur, um mit unserer Vergangenheit fertig zu werden, sondern auch darum, weil wir, weil Europa, weil die Völker der Welt im Begriff sind, in eine neue Epoche der Weltgeschichte einzutreten." Diese neue Epoche, sagte Erhard weiter, könne nicht von nationalen Kriegen und "nationalstaatlicher Machtpolitik" bestimmt sein, solle sie nicht in Anarchie versinken.
Die Angst vor der Anarchie bestimmte, wenn auch in ganz anderen Zusammenhängen, das Wirken Otto von Bismarcks, zunächst ab 1862 als preußischer Ministerpräsident und später ab 1871 als Reichskanzler. Traumatisiert von den Erfahrungen der bürgerlichen Revolution von 1848, wurde aus dem Gutsbesitzersohn ein Politiker, der sich allein der - preußischen - Staatsräson verpflichtet fühlte. Erfolge wie die staatliche Einigung und eine Verfassungskonsolidierung lassen sich auf dieses Verständnis zurückführen.
Die Zugeständnisse an eine bürgerliche Öffentlichkeit bewegten sich jedoch auf dem kleinsten gemeinsamen, die Monarchie nicht gefährdenden Nenner. In seiner Furcht vor Umsturzversuchen erklärte Bismarck politische Kontrahenten schnell zu Staatsfeinden. Weder die katholische Kirche, die er im "Kulturkampf" erbittert verfolgte, noch die Sozialisten und Liberalen blieben von der eisernen Hand des Kanzlers verschont. Mit dem radikalen "Sozialistengesetz" von 1878 verbot Bismarck alle sozialdemokratischen, sozialistischen und kommunistischen Vereinigungen. Das war die "Peitsche". Mit dem "Zuckerbrot" in Form von Renten-, Kranken- und Unfallversicherung sollte die Arbeiterschaft milde gestimmt werden. Ein Plan, der nur bedingt aufging.
Diesen Widersprüchen im Wirken Bismarcks versuchte Ludwig Erhard in seiner Festrede gerecht zu werden. Teilweise fand er dafür ungewöhnlich deutliche Worte: "Leichter als früheren Generationen fällt uns das Eingeständnis, dass Bismarck schon zu seinen Lebzeiten nicht nur geliebt und verehrt, sondern - und nicht zuletzt in seinem eigenen Lande - gehasst wurde. So wie er selbst zu hassen verstand."
Erhard kritisierte sowohl die Sozialistengesetze als auch den autoritären Führungsstil des Kanzlers, hob aber seine Reformen der Sozialgesetzgebung als außerordentlich hervor: "Auch wenn er sonst nichts getan hätte, würde dies allein genügen, ihm den Ruf eines konstruktiven Staatsmannes zu sichern."
Dass Bismarck diesen Ruf noch heute genießt, hat vor allem mit seiner historischen Leistung zu tun: ein anachronistisches Gebilde aus über 30 Fürstentümern aufzulösen zugunsten eines vom Einheitsgedanken getragenen Staatengebildes. Darin erkannte auch Ludwig Erhard eine bis in die Gegenwart reichende Mission, "als Sinnbild unseres Strebens, uns als Nation zu fühlen".