Natürlich merkt man am Duktus und Gestus solcher Sätze, dass sie der alten, wenn auch nicht guten Zeit entstammen, obwohl sie doch inhaltlich sehr präzise die gegenwärtige Situation beschreiben. Aber vielleicht erfasst denjenigen, der alltäglich "Denglisch" und Talk-Gestammel, insgesamt dem Jargon semantischer Erbärmlichkeit ausgeliefert ist, beim Lesen einer solchen Textstelle die Sehnsucht nach einer Sprache, die mit luzidem Pathos die Probleme der Zeit und Gesellschaft abzuhandeln bereit ist.
Das Zitat stammt aus Friedrich Schillers Abhandlung "Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen". Bezogen auf Kantsche Grundsätze legt er hier "die Resultate seiner Untersuchungen über das Schöne und die Kunst" vor. Die zentrale Erkenntnis besteht für ihn darin, dass die Schönheit der Freiheit vorangeht, dass es die "Schönheit ist, durch welche man zu der Freiheit wandert".
Was immer wir dem großen Manne vorwerfen, meinte kürzlich Iris Radisch in der "Zeit", Ruhm gebühre ihm dafür, dass er die Kunst dahin gestellt habe, wo sie hingehöre: "auf den Königsthron der Gesellschaft". Der Quintessenz einer solchen Feststellung kann und muss man zustimmen. Deshalb wirken die "Briefe" heute so revolutionär - in einer Zeit, die bestimmt ist vom Popanz des Shareholder-Value und die im Schönen statt einer Botschaft meist nur noch die dekorative Verpackung von Waren sieht. Schein statt Sein, Warenästhetik statt Ästhetik des Wahren. Und wer glaubt heute noch daran, dass in jedem individuellen Menschen ein idealischer steckt, den es - eben durch Erziehung zum Guten, Schönen und Wahren - herauszulocken gilt?
Schiller geht es um die Notwendigkeit, jedem Menschen in einem "ästhetischen Staat" die Möglichkeit kultureller Bildung zu eröffnen; heute würden wir sagen: es geht um das "Bürgerrecht Kultur". Wenn Iris Radisch ihr Klassiker-Lob mit Abwertungen verbindet - Starrkrampf der Verse, gipsernes Schönheitsideal -, so trifft das kaum den originären Schiller. Er wurde vor allem durch Schule, Universität und Politik auf einen erhaben-denkmalsgeschützten Heros hin "ummodelliert", national, bald nationalistisch und schließlich nationalsozialistisch "usurpiert". Seine Rezeptionsgeschichte bewahrheitet Franz Grillparzers düstere Vision von 1848, dass nämlich der Weg der neuern deutschen Bildung von der Humanität durch Nationalität zur Bestialität führe.
Herbert Marcuse hat 1937 in einem Essay ("Über den affirmativen Charakter der Kultur") den Irrweg des bürgerlichen Kulturverständnisses im 19. Jahrhundert vor allem darin gesehen, dass die geistig-seelische Welt als ein selbstständiges Wertreich von der Zivilisation abgelöst und über sie erhöht worden sei. Behauptet wurde eine allgemein verpflichtende, unbedingt zu bejahende, ewig bessere, wertvollere Welt. Diese unterscheide sich wesentlich von der tatsächlichen Welt des alltäglichen Daseinskampfes, aber jedes Individuum könne sie "von innen" her für sich realisieren. So gewönnen die kulturellen Tätigkeiten und Gegenstände ihre hoch über den Alltag gesteigerte Würde: Ihre Rezeption erweise sich als ein Akt der Feierstunde und der Erhebung.
Die ursprünglich in allen Bereichen bedeutsamen Beiträge der deutschen Kunst zur Weltkultur wurden in einem heute kaum vorstellbaren Ideologisierungsprozess pervertiert und ins Gegenteil gekehrt. Dabei wurde Schiller, der arme, tapfere Mann, der seinem von schweren Krankheiten heimgesuchten Körper ein ergreifendes Werk der Humanität abgerungen hatte, auf das Piedestal nationaler Beweihräucherung gestellt: als eine strahlende Gestalt, die, wie es im Lesebuch hieß, jedes "jugendliche frische Gemüt" ergreife und erhebe; als einer, der "wie kein anderer prophetenhaft alles Gemeine aus der Brust des heranwachsenden Jünglings wegtilgend mit heiligem Feuer zu verzehren, und die Flamme eines höheren Lebens darin zu entzünden vermag".
Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurde das schillersche Pathos "entidealisiert"; es war nun nicht mehr Gewand des Gedankens, Erhöhung des Gedachten, Gesehenen, Erlebten, Erfühlten, sondern, sich selbst überlassen, unverbindlicher, willkürlicher Wortrausch; Gestalt und Gehalt standen nicht mehr in echter, unverwechselbarer Verbindung. Das Klischee dominierte; ein Wort gab das andere, eine Phrase die andere.
Die Reden des Schillerjahres 1859 - der 100. Geburtstag des Dichters wurde als "Siegesfest des deutschen Geistes" gefeiert - markieren die erste Etappe dieser Entwicklung: "Welchen ausländischen Mann heute sein Weg durch Deutschland an einem oder dem anderen Ende geführt hätte, seinem Blick wären in allen oder fast allen Städten festliche Züge heiterer und geschmückter Menschen begegnet, denen unter voran getragenen Fahnen auch ein prächtiges Lied von der Glocke erscholl. Der frohernste Gesang, die gewaltige Fassung, hätte ihm jeder Mund berichtet, sei von unserer größten Dichter einem, dessen vor hundert Jahren erfolgte Geburt an diesem Tage eingeläutet und begangen werde ... Ach, könnte doch auch an hehren Festen alles fortgeläutet werden, was der Einheit unseres Volkes sich entgegenstemmt, deren es bedarf und die es begehrt" (Jacob Grimm).
Die interessanteste Festrede hielt Gabriel Rießer - interessant auch deshalb, weil Rießer Jude war. Das dokumentiert auf eine eindringliche Weise, wie echt-deutsch, selbst im Sprachlich-Negativen, der jüdische Intellektuelle empfand, wie vollständig integriert er war; (auf der gleichen Linie lag, dass man in Nürnberg 1878 für die Sedanfeier einen Rabbiner als Festredner aussuchte). Rießer war zudem ein gegen Obrigkeits- und Polizeistaat kämpfender liberaler Geist; seine Rede ist somit ein Beispiel dafür, dass man zu dieser Zeit demokratisch denken, fühlen und handeln konnte, und dennoch, statt der logisch-klaren, menschlich bescheidenen Sprache der Aufklärung und Klassik die hochtrabende und schwülstige Sprache eines engstirnigen Kleinbürgertums benutzte.
Rießers Schillerrede umfasst ungefähr 5.000 Worte; darunter sind etwa 150 Steigerungsformen in Form grammatikalischer Superlative oder Komparative; das heißt, jedes 33. Wort ist ein Superlativ oder Komparativ. Unberücksichtigt in dieser Zahl sind die vielen inhaltlichen Superlative wie etwa: mächtiges Rauschen, hohes Tönen, gewaltiger Genius und dergleichen. Um aufzuzeigen, dass Schiller edel, erhaben, mächtig, herrlich und unerreicht sei, werden die entsprechenden Worte zu rhetorischen Gipfeln aufgetürmt; allein das Wort "hoh" oder "hoch" taucht 60-mal auf; ähnlich "edel". Für Rießer und seine enthusiastisch-andächtigen Zuhörer war in Schiller die "höchste und edelste Bildung erschienen", die "schönste Blüte, die süßeste Frucht; in ihm lebten die zartesten und tiefsten Empfindungen, das reinste Geistige, die höchsten Mächte und die ursprünglichsten und kindlichsten Gefühle" - und dies alles in einem Satz!
Metaphorik, Syntax und Topik der national-bürgerlichen (dem Geiste nach: kleinbürgerlichen) politischen wie kulturellen Rede des 19. und 20. Jahrhunderts sind damit illustriert: Ein Schwulst an Bildern, die Betäubung des Logos durch mythifizierendes Geraune, eine Zerstörung der Begriffskerne, so dass leere Worthülsen verbleiben, eine Fülle falscher, schiefer oder unnötiger Genitive, um hochtrabende Feierlichkeit bemühte Inversionen, eine Häufung synonymer Worte. Von den Tagen der Befreiungskriege bis herab zu Adolf Hitler lassen sich - abgesehen von der zunehmenden Häufigkeit der Erscheinungen - kaum wesentliche Unterschiede feststellen.
Man kann nur hoffen, dass die Festredner des Jahres 2005 nicht in das hohle Pathos des 19. Jahrhunderts zurückfallen. Die Gefahr ist durchaus gegeben: Denn da in unserer Zeit der extremen Ökonomisierung die von Schiller postulierte Einheit von Ästhetik und Ethik längst dem "Dschungelkapitalismus" zum Opfer gefallen ist - Heiner Geißler: "Geldgier zerfrisst die Hirne" -, gehört zur sittlichen Inkompetenzkompensationskompetenz (Odo Marquard) die Flucht in einen, solches Vakuum kaschierenden "Hoch-Ton".
So kann man nur, wie einst Ortega y Gasset bei Goethe, um einen Schiller "von innen bitten". Aber ein Thomas Mann ist nicht in Sicht. Im Schiller-Jahr 1955 schloss dieser seine Gedenk-Rede, die er nacheinander in Stuttgart und Weimar hielt, mit den Worten: "Das letzte Halbjahrhundert sah eine Regression des Menschlichen, einen Kulturschwund der unheimlichsten Art, einen Verlust an Bildung, Anstand, Rechtsgefühl, Treu und Glauben, jeder einfachsten Zuverlässigkeit, der beängstigt".
Thomas Mann zitiert dann die Klage der Ceres aus dem "Eleusischen Fest":
"Find' ich so den Menschen wieder,
Dem wir unser Bild beliehn,
Dessen schöngestalte Glieder
Droben im Olympus blühn?
Gaben wir ihm zum Besitze
Nicht der Erde Götterschoß,
Und auf seinem Königsitze
Schweift er elend, heimatlos?"
Dann fährt Thomas Mann fort: "Es ist Schillers Stimme. Ohne Gehör für seinen Aufruf zum stillen Bau besserer Begriffe, reinerer Grundsätze, edlerer Sitten, ,von dem zuletzt alle Verbesserung des gesellschaftlichen Zustandes abhängt', taumelt eine von Verdummung trunkene, verwahrloste Menschheit unterm Ausschreien technischer und sportlicher Sensationsrekorde ihrem schon gar nicht mehr ungewollten Untergange entgegen. … Von seinem sanft-gewaltigen Willen gehe durch das Fest seiner Grablegung und Auferstehung etwas in uns ein: von seinem Willen zum Schönen, Wahren und Guten, zur Gesittung, zur inneren Freiheit, zur Kunst, zur Liebe, zum Frieden, zu rettender Ehrfurcht des Menschen vor sich selbst."
Hermann Glaser, unermüdlich anregender und fordernder Kulturkritiker, war viele Jahre Kulturreferent der Stadt Nürnberg.