Im Theater der Goethezeit war Musik ein wesentliches Element der Inszenierung, überhaupt der Dramenkonzeption. Auch im Sprechtheater begann die Aufführung oft mit einer Ouvertüre; zwischen den einzelnen Akten erklangen Zwischenaktmusiken, und vielfach kulminierten die Ideen des Dramas in einer Schlussmusik, die für den Zuschauer wie beim späteren Hollywoodfilm die Handlung in die eigene Gegenwart verlängerte und die Brücke zur Rückkehr in die Realität bildete.
Nicht wenige Stücke aus solchen Schauspielmusiken - wie Beethovens Ouvertüre zu Goethes "Egmont" - führten bald ein Eigenleben. Ein Sonderfall ist das Lied "Mit dem Pfeil, dem Bogen" aus Schillers "Wilhelm Tell" (III, 1): Ursprünglich für die Berliner Inszenierung 1804 komponiert, ging es in den Schatz der Volkslieder ein. Im "Tell" ist es allerdings kein isoliertes Einlagelied, sondern Bestandteil einer das Drama durchziehenden musikalischen Dramaturgie. Der Musik kommt hier insofern eine bemerkenswerte Rolle zu, als die Regieanweisungen an entscheidenden Stellen Gesänge und Instrumentalmusik vorsehen und auf dem Theater der Zeit genau so umgesetzt wurden.
Gleich die erste Szene ist als regelrechte Opernszene konzipiert. Schillers Regieanweisung sieht vor, dass der Zuschauer entsprechend eingestimmt wird: "Noch ehe der Vorhang aufgeht, hört man den Kuhreihen und das harmonische Geläut der Heerdenglocken, welches sich auch bei eröffneter Scene noch eine Zeitlang fortsetzt." Der dann folgende Beginn des Schauspiels ist einigermaßen ungewöhnlich: Noch bevor ein einziges Wort gesprochen wird, beherrscht Musik die Szene. Ein Fischerknabe "singt im Kahn", wie der Regiehinweis vorsieht ("Es lächelt der See, er ladet zum Bade"), vom Berge antwortet ein Hirte mit einem Lied ("Ihr Matten lebt wohl"), und mit zwei Strophen eines Alpenjägers ("Es donnern die Höhen, es zittert der Steg") endet die musikalische Eröffnung. Die Szene verdient um so mehr Beachtung, als Schiller für das Lied des Fischerknaben ausdrücklich vorschreibt: "Melodie des Kuhreihens", die dann vom Hirten ("Variation des Kuhreihens") und vom Alpenjäger aufgegriffen wird ("Zweite Variation").
Der Kuhreihen oder Kuhreigen ist jener Melodietyp, der von den Schweizer Hirten gesungen wurde, um die Kühe zum Melken zu rufen. Seit der berühmten Beschreibung Jean-Jacques Rousseaus in seinem "Dictionnaire de Musique" (Paris 1768) hat er die Phantasie von Komponisten und Autoren bis weit ins 19. Jahrhunderts immer wieder beflügelt. Der Kuhreigen verkörperte für Rousseau die ursprüngliche Ausdruckskraft und Wirkungsmacht der Musik schlechthin: Diese beruhe nicht primär auf Intervallkonstellationen, sondern auf den Assoziationen, die sich mit dieser Melodie verbinden.
Dieser Passus fand Eingang in Johann Gottfried Ebels "Schilderung der Gebirgsvölker der Schweiz". Dort heißt es: "Wenn bei den schweitzerischen Regimentern in Frankreich der Kuhreihen gespielt oder gesungen wurde, so zerfloßen die Alpensöhne in Thränen, und fielen, wie von einer Epidemie ergriffen, haufenweise plötzlich in solche Heimsehnsucht, daß sie desertirten, oder starben, wenn sie nicht ins Vaterland gehen konnten. Diese außerordentliche Wirkung jener Alpenmusik ward der Grund, warum bei Todesstrafe verboten wurde, den Kuhreihen weder zu pfeifen noch zu singen."
Schiller kannte diesen Text. Mit dem Stichwort "Schweiz" verbindet sich im "Tell" die Idee von Freiheit und Vaterland - in der konkreten Situation der deutschen Staaten um 1800 ein politisch höchst aktuelles Thema.
Der Kuhreigen bleibt im "Tell" nicht auf die Eingangsszene beschränkt, sondern ist eine Art Leitmotiv, das immer anklingt. In der Auseinandersetzung zwischen Rudenz und Attinghausen im zweiten Aufzug wird er als Symbol für die Identität der Schweiz und zugleich für die Sehnsucht nach dem Vaterland beziehungsweise der Heimat dechiffriert. Wie eine Paraphrase über Rousseaus Beschreibung des Kuhreigens und seiner elementaren emotionalen Wirkung mutet es an, wenn Schiller Attinghausen verkünden lässt:
"Mit heißen Thränen wirst du dich dereinst
Heim sehnen nach den väterlichen Bergen,
Und dieses Heerdenreihens Melodie,
Die du in stolzem Ueberdruß verschmähst,
Mit Schmerzenssehnsucht wird sie dich ergreifen,
Wenn sie dir anklingt auf der fremden Erde.
O mächtig ist der Trieb des Vaterlands!"
Schon hier wird deutlich, dass für Schiller der Kuhreihen mehr ist als ein klingendes Requisit. Er steht für die zentralen Themen des Schauspiels, für die Idee der Freiheit und des Vaterlands.
Eine völlig andere Funktion hat die Schlussmusik des zweiten Aufzugs: Am Ende der Rütli-Szene soll nach Schillers Anweisung die Musik das letzte Wort haben: "Indem sie zu drei verschiednen Seiten in größter Ruhe abgehen, fällt das Orchester mit einem prachtvollen Schwung ein, die leere Scene bleibt noch eine Zeitlang offen und zeigt das Schauspiel der aufgehenden Sonne über den Eisgebirgen." Nach Stauffachers Aufruf zur Besonnenheit kommt der Musik in Verbindung mit der aufgehenden Sonne als "Wahrzeichen der Aufklärung" die Funktion zu, eine Ahnung vom Ausgang des Dramas zu vermitteln: Sie antizipiert die Überwindung der Tyrannei und die Erlangung der Freiheit.
Auch der dritte Aufzug beginnt mit Musik. Walther, Tells Sohn, singt hier sein Lied "Mit dem Pfeil, dem Bogen/Durch Gebirg und Thal", dessen Text von Schiller bemerkenswerterweise erst während der Weimarer Bühnenproben im März 1804 eingefügt wurde. Entscheidend für die dramaturgische Funktion dieses Liedes ist, dass Walther fast zum Opfer des von Geßler erzwungenen Gottesurteils des Apfelschusses wird. Walthers Lied, das den unerschütterlichen Glauben an das Metier und die Freiheit des Jägers artikuliert, wird dadurch, dass es als Gesangsstück aus dem Kontext herausgehoben ist, gleichsam zum Motto des gesamten nachfolgenden Aufzugs. Es ist kein Zufall, dass dieses Lied eine derartige Popularität erlangt hat.
Musik spielt erneut eine zentrale Rolle in der Schlüsselszene des "Wilhelm Tell", in der dritten Szene des vierten Aufzugs, in der es zur Katastrophe kommt: Sie beginnt mit dem großen Monolog Tells ("Durch diese hohle Gasse muß er kommen") und scheint zeitweilig in eine heitere Alpenidylle umzuschlagen, in der der Zuschauer den Hochzeitszug des Klostermeyer erlebt. Wir sehen den Hochzeitszug nicht nur, sondern wir hören wir ihn schon, bevor wir ihn sehen. Doch was zunächst als "tönendes Requisit" erscheint, erweist sich als Element einer außerordentlich wirkungsvollen Zweischichtendramaturgie, die der Musik eine eigene kontrastierende Ebene zuweist:
Während sich der Konflikt mit Geßler zuspitzt, erklingt erneut von fern die heitere Musik des Hochzeitszuges, aber: "Man hört die vorige Musik wieder auf der Höhe des Wegs, aber gedämpft" (V. 2773). Gedämpfte Bläsermusik steht in der Oper seit eh und je für den Ausdruck der Trauer. Hier signalisiert sie dem Zuschauer den tragischen Ausgang der Handlung. Der Hochzeitszug mit seinem Bauernmarsch kommt schließlich in dem Moment wieder auf der Bühne an, in dem der Konflikt kulminiert und Geßler sein Leben aushaucht: "indem die vordersten von dem Brautzug auf die Scene kommen sind die hintersten noch auf der Höhe, und die Musik geht fort" (V. 2797).
Zur heiteren Musik des Hochzeitszuges, der zunehmend die Bühne füllt, verblutet der Tyrann. Die Musik verrät gegen den Augenschein der äußeren Handlung, dass der letale Ausgang für die Menge, die das Bühnengeschehen beherrscht, für das Volk, kein Grund zur Trauer ist. In einem jähen Schnitt wird die Musik von Rudolph dem Harras zum Verstummen gebracht:
"Rast dieses Volk,
Daß es dem Mord Musik macht?
Laßt sie schweigen."
Hier, nach dem Verstummen der Musik, bricht Schiller seine Zweischichtendramaturgie durch einen schroffen Kontrast: Mit einer erst während der Proben für die Weimarer Uraufführung ergänzten Trauermusik schließt Schiller den Aufzug, und zwar mit einem Chor der Barmherzigen Brüder, der das Vorbild der antiken Tragödie nicht verleugnen kann:
"Rasch tritt der Tod den Menschen an,
Es ist ihm keine Frist gegeben,
Es stürzt ihn mitten in der Bahn,
Es reißt ihn fort vom vollen Leben,
Bereitet oder nicht, zu gehen,
Er muß vor seinen Richter stehen!"
Es ist nicht zu übersehen, dass durch diesen sakralen Chor die Provokation des Tyrannenmordes zu den Klängen des Bauernmarsches nur scheinbar gemildert wird. Hier wird kein Trauerchor angestimmt, sondern sentenzhaft die Unausweichlichkeit und Schicksalshaftigkeit des Todes besungen. Bei der dritten Weimarer Aufführung strich Schiller diesen Chor wieder.
Nicht nur den Anfang des Stückes, sondern auch den Schluss prägt die Musik. Die Stringenz der musikalischen Dramaturgie wahren die beiden letzten Szenen, wenn Schiller (V. 3270) erneut den Kuhreihen erklingen und damit das Symbol für Vaterland und Freiheit ein weiteres Mal anklingen lässt: "Man hört den Kuhreihen von vielen Alphörnern geblasen." Nicht ein einziges Mal war diese Melodie während des Konfliktes mit den Habsburgern erklungen.
In der letzten Szene wird Tell als "Erretter" gefeiert: "Die Musik vom Berge begleitet diese stumme Scene" (nach V. 3281). In einem kurzen Schlussdialog wird die endgültige Aussöhnung mit Bertha und Rudenz vollzogen. "Indem die Musik von neuem rasch einfällt, fällt der Vorhang", heißt es in Schillers Regieanweisung nach Rudenzens letzten Textworten. Wie im Film ist die Musik hier integraler Bestandteil des Werkschlusses. Goethes "Egmont" mit der vom Dichter selbst vorgesehenen Schlussmusik einer Siegessymphonie, die über die Handlung hinaus verweist, ist somit kein Einzelfall in der Theatergeschichte.
Musik prägt von der ersten bis zur letzten entscheidende Szene das ganze Schauspiel. Nicht zufällig eröffnet Schiller den ersten Akt mit einer Folge von Liedern, die Teilmomente der Idylle in einem Totaleindruck aufgehen lassen, beschließt dann aber das Schauspiel mit Instrumentalmusik, die auf der Grundlage des leitmotivisch verwendeten Kuhreihens das Konkrete der Musik gleichsam ins Allgemeine wendet. Es ist die eben erst in der Symphonik der Klassik gewonnene Ausdruckskraft der Instrumentalmusik, auf deren Wirkung Schiller vertraut.
Instrumentalmusik verkündet nicht nur im vierten Akt die wahren Empfindungen über den Tyrannenmord, sondern weist am Schluss wie eine Vision über das Ende der eigentlichen Handlung und die Schweiz als "der Freiheit Land" hinaus und lässt den Zuschauer teilhaben am Triumph der Freiheit. Was mit Schillers Idee einer musikalischen Apotheose der Freiheit gemeint sein mag, kann nachempfinden, wer sich 1989/90 von Beethovens Musik zu Schillers "Ode an die Freude" und Leonard Bernsteins Aktualisierung "Freiheit, schöner Götterfunken" mitreißen ließ.
Der Autor ist Musikwissenschaftler und unterrichtet an der Hochschule für Musik "Franz List" in Weimar.