Über die "Neunte" ist fast immer so geschrieben worden, als sei sie allein die Schöpfung Beethovens, als sei auch die "Freuden"-Hymne im Wesentlichen ihm zu verdanken. Wenn je ein Autor um den Anteil am Geschick und Weltruhm eines Kunstwerks geprellt worden ist, dann Friedrich Schiller im Beethoven-Schrifttum zweier Jahrhunderte. Dabei ist es der Dichter, der die globale Karriere programmiert, der sie mit seinen Worten vorweggenommen und sie in einer tollkühnen Vision für möglich gehalten hat. Alles, was heute dem Werk als Würdigung und Wirkung und Vernutzung widerfährt, vom "Weltkulturerbe" bis zum "Song of Joy", ist nur das Echo auf die leidenschaftliche Zeile: "Diesen Kuss der ganzen Welt!"
Heute hören wir das Werk als den Wunschtraum von der einen Welt, als Hymne der Globalisierung: "Alle Menschen werden Brüder!" - Das ist zwar Utopie, aber doch auch konkrete Forderung. Die eine, die ganze Welt, die Schiller da herbeigedichtet hat, ist nicht ein Globus der Wirtschaftsbeziehungen, der Herrschaftsbereiche, der politischen Strategien, sondern eine Erde der Brüderlichkeit, ein Reich der Begeisterung.
"Freude, schöner Götterfunken" - dieser Gedanke durchpulst das Gedicht wie Beethovens Chorfinale, er elektrisiert die Sinfonie wie die Zuhörerschaft von Berlin bis Tokio, von Petersburg bis nach New York. Wie in einer Kettenreaktion erzeugt der "Götterfunken" selbst die stets neuen Energien, mit denen hier ein Kunstwerk aus sich selbst heraus Aktualität, seelische Geistesgegenwart - und standing ovations hervorruft. Dass die "Neunte" bis heute nicht ausgeschöpft, erloschen, erledigt ist, verdankt sie nicht zuletzt der Feuertrunkenheit ihrer Worte.
Mit solchem Einspruch im Namen Schillers wäre als Erster Beethoven einverstanden. "Lasst uns das Werk des unsterblichen Schiller singen!" - so wollte der Komponist ursprünglich die Hymne vom Sänger einleiten lassen. Die Verwendung des Gedichts in seiner neunten Sinfonie war Ausdruck seiner lebenslangen Verehrung für den deutschen Dichter, der ihm von Jugend an Vorbild gewesen war, dessen frühe Dramen er nahezu auswendig wusste, dessen Sentenzen er in Freundschaftsbücher einschrieb.
Dem Lied "An die Freude" hatte Beethoven 30 Jahre lang die Treue gehalten, ehe er es dann sinfonisch auf den Sockel hob. Schon als 22-Jähriger hatte er vorgehabt, das Gedicht als einfaches Lied mit Klavierbegleitung zu vertonen. Diese Verse wurden für Beethoven so etwas wie der Begleittext für sein ganzes Leben. Und es störte ihn auch nicht, dass Schillers Strophen, als er sich endlich an die große Komposition machte, schon hundertmal vertont und eigentlich zersungen waren.
1785 schreibt Friedrich Schiller seine Ode, 1824 wird die neunte Sinfonie Ludwig van Beethovens in Wien uraufgeführt. Knapp vier Jahrzehnte liegen zwischen beiden Daten, beiden Werken, beiden Utopien. Aber zwischen dem Herbst 1785 und dem Frühjahr 1824 ereignen sich Epochenstürze und Geschichtsbrüche, wie sie das Abendland nicht einmal während des Dreißigjährigen Krieges "erlebt" hat. Europa wird vollständig umgewälzt und dann halb wieder zurückgeworfen. Eine tausendjährige Reichsidee löst sich auf. Eine große Revolution wird von den Revolutionären ad absurdum geführt. Napoleon durchfurcht den Kontinent fast 20 Jahre lang mit Kriegen.
Zwischen beiden Werken liegt, mit Hegel zu sprechen, der brachiale Eingriff des Weltgeistes. Schiller hat seine "Freude" (wie er sie gerne nennt) vier Jahre vor der französischen Revolution gedichtet; die "Rettung von Tyrannenketten", die er darin beschwört, sollte mit dem Sturm auf die Bastille am 14. Juli 1789 eingeleitet und eingelöst werden; aber schon bald war die "Gnade auf dem Hochgericht", die er sich auch wünschte, den Handhabern der Guillotine unbekannt.
Und fünf Jahre vor der Uraufführung der "Neunten" wurden die Karlsbader Beschlüsse gefasst, die die europäischen Uhren wieder auf die vorrevolutionäre Zeit zurückzudrehen versuchten. Es hatte den beängstigenden Anschein, als sei alles beim Alten, beim Vorgestrigen geblieben; und vergeblich alles Blutvergießen, jeglicher Elan und sämtliche Ideale von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.
Das Doppelwerk ist also die Klammer um eine beispiellose Geschichtskatastrophe. Es hält, nicht im Triumph, sondern mit dem Gestus des "Dennoch" fest, was aus den Trümmern und Leichenbergen Europas damals noch an Hoffnung, Vernunft und Menschlichkeit übrig geblieben ist. Schillers geselliger Gesang - denn die "Freude" war mehr Trinklied als Hymne - erhält seine späte Resonanz im resignierten Jubel eines desillusionierten Komponisten. Der Schlusschor der "Neunten" umspannt eine Katastrophenerfahrung von apokalyptischen Ausmaßen. Dass das Werk seit zwei Jahrhunderten Epoche gemacht hat, verdankt es nicht zuletzt diesem historischen Horizont. Die "Freuden"-Hymne ist der Tribut an die Leiden eines Zeitalters. Und alle Nachwelt erklärt sich aus dieser Vorhölle.
Noch eine andere Dynamik ist in dem Werk untergründig präsent; neben die historische Erfahrung tritt die individuelle. Wir haben es mit einem seltsamen Überkreuz der Lebensgeister zu tun, mit einer Schiller-Beethoven-Konstellation. Denn in dieser Wortmusik treffen sich gleichgestimmte Schicksale: Zwei Genies, beide ohne wirkliches Talent für Heiterkeit und Serenität, zwei Leidgeprüfte und Schmerzerfahrene, singen sich Trost zu in einem Gemeinschaftswerk über das, was ihnen beiden im Leben gefehlt hat: die Freude. So jubelnd, so überwältigend, so weltbewegend konnte die Hymne nur als Negativ-Ausdruck gelingen.
Schiller schreibt sein Gedicht nach drei Jahren einer unsteten, stets gefährdeten Existenz, die von Krankheiten, Geldsorgen, den Nachstellungen seines württembergischen Herzogs überschattet war; er schreibt es, nachdem er in Leipzig und Dresden einen enthusiastischen Freundeskreis gefunden hat und endlich einmal sorgenfrei leben kann: Der Rausch eines befreiten Menschen ist darin, der Überschwang dessen, der die ganze Welt umarmen möchte; und wir hören das Echo eines ekstatischen Vormittags in einem sächsischen Weinberghäuschen, als der Dichter sämtliche Gläser, nachdem sie geleert waren, zum Fenster hinaus auf die Straße geschmettert hatte.
Beethoven reißt sich mit diesen Versen aus seiner immer gewaltiger werdenden Misanthropie. Die Freude war schon verzweifeltes Stichwort im Heiligenstädter Testament gewesen. Sie diente als Hoffnungsvokabel im Brief an die "Unsterbliche Geliebte", und sie wird nun für den alten, tauben, grantigen Komponisten zur Beschwörungsformel und Rettungschiffre gegen die eigene Weltfremdheit. Wenigstens in der Musik sollen noch alle Menschen Brüder werden, soll der Götterfunken Freude noch aufblitzen. Und er soll so einfach wie ein Volkslied auf die Erde geholt werden. Alle sollen in den Jubel einstimmen können, in den Menschheitsgesang.
Abenteuerlich wie die Entstehungsgeschichte ist auch das Schicksal der Sinfonie: Wie nach den ersten Aufführungen der letzte Satz, wegen der Besetzungsschwierigkeiten, beinah preisgegeben wurde, wie in England die Sinfonie an ihrer Länge zu scheitern drohte, wie sich in New York die erste Aufführung gegen eine nebenan begangene Siegesfeier (mit eigener Hymne) behaupten musste.
Aber auch das gehörte zur Story des Nachruhms: Richard Wagners Versuch, bei seiner berühmten Dresdner Aufführung 1846 den Namen Schillers zu verdrängen und Goethe ins Spiel zu bringen, oder die Vormärzlegende, Schiller habe ursprünglich nicht die "Freude", sondern die "Freiheit" angedichtet - worauf sich dann 150 Jahre später Leonard Bernstein bei seinen beiden Berliner Aufführungen nach dem Mauerfall bezog. Nicht zu vergessen: die erste "proletarische Neunte" im März 1905, vor Berliner Arbeitern im Saalbau Friedrichshain.
Früh schon tauchte die Idee auf, aus dem hochkomplizierten, für die Zeitgenossen verstörenden Werk einen populären Extrakt zu gewinnen, aus der groß angelegten Sinfonie eine Hymne herauszuheben, die dann nicht mehr dem Konzertleben vorbehalten sein sollte, sondern allgemein singbar und spielbar. Ein englischer Kritiker regte schon 1837 in einer Rezension an, aus dem Schlusschor "die große Freimaurer-Hymne Europas" zu machen. Und er hatte dabei auch schon manchen Bombast unserer Tage vor Augen und im Ohr: "getragen von tausend Stimmen, unterstützt von einem fünfhunderköpfigen Orchester."
Das ist sensationell: bereits damals wittert einer nicht nur die außerordentliche musikalische Zukunft des Werks, sondern seine ideologische Dynamik, die philosophische Hymnen-Tauglichkeit für unsere Alte Welt. Dass noch die Freimaurer Pate standen, macht den Vorschlag nicht suspekt: von Freimaurerliedern hatte sich Schiller inspirieren lassen, so wie sein Gedicht wiederum in die Freimaurer-Bewegung hineinwirkte.
Es ist dann ein beinah satirisches Szenario, mit dem knapp 150 Jahre die Europa-Hymne beschlossen wird. Nicht eine Akademie, nicht ein Kulturkongress, nicht ein Beethoven-Colloquium gibt den Anstoß zu dieser gebrauchsfertigen Kurzfassung, sondern der "Ausschuss für Raumordnung und Gemeindefragen des Europarats"; am 9. Juli 1971 verabschiedet er den "Rapport sur un hymne européen", in dem es heißt: "Es erscheint angemessen, ein Musikwerk zu wählen, das charakteristisch für den Genius Europas ist und dessen Verwendung bei europäischen Veranstaltungen bereits ansatzweise eine Tradition bildet."
Der Text fällt bei dem von Herbert von Karajan instrumentierten Arrangement weg, - mit einer Begründung, die eigentlich der ganzen Unternehmung Europa-Hymne etwas Fragwürdiges verleiht: Die Ausschussmitglieder haben immerhin bemerkt, dass "hier kein spezifisch europäisches, sondern ein eher universelles Bekenntnis vorliegt". Knapper könnte man Schillers Text nicht resümieren.
Wie der Zeitgeist so spielt: Fast zur selben Zeit wie die Europa-Hymne entsteht der "Song of Joy" von Waldo de los Rios, ein populärer Schlager, der immerhin noch im Titel eine Hommage an Schiller enthält. Allen diesen Ausschlachtungen und Kleinspielungen zum Trotz steht das Werk noch immer in alter Widerständigkeit da. Und so hätten wir denn Anlass, mit der "Neunten" eine geradezu planetarische Feier zu begehen, ein kosmisches Fest der Freude? Nichts wäre anmaßender. In dem historischen Moment, da, mit der Globalisierung alle Menschen Brüder sein könnten, zeigt sich, dass wir es nur als Kain und Abel sind. Wo wir Freude erwarten sollten, die sich um die Erde jauchzt, erleben wir eine universelle Angst.
Das Gedicht, die Sinfonie, sie waren noch nie so nahe am Ziel ihrer Wünsche, der Rausch von einst noch nie so dicht an der Wirklichkeit, die Ekstase noch nie so verwechselbar mit praktischer Menschenmöglichkeit - und bleibt nun doch wie ein auskomponierter Traum übrig, der nicht von dieser Welt ist und sich am besten fortstehlen müsste aus diesem Bund von Unfreiheit, Ungleichheit, Unbrüderlichkeit.
Und dennoch, oder gerade deswegen, scheint der Schluss erlaubt, dass das Werk in einer ganz neuen Weise zu uns zu sprechen beginnt. Jetzt, da die "Welt" die Freudenbotschaft immer öfter ad absurdum führt, klingt die Sinfonie, klingt Schillers Ode uns um so dringender in den Ohren. Mit jeder radikalen Aufführung der Neunten geschieht ein Stück Arbeit an der Utopie der Menschengesellschaft.
Der Autor ist Musik- und Literaturwissenschaftler und lebt in der Nähe von Frankfurt/M.