Schlimmer kann es nicht mehr kommen, dachte er, als die zwei Männer mit ihm im grünen Wartburg Kombi durch den Wintermorgen fuhren. Schlimmer als das vergangene Vierteljahr im Jugendwerkhof Freital, die verzweifelte Flucht, die Festnahme und die Einzelzelle, in der der 17-Jährige schlief - bis sie ihn abholten. Die Männer um Stefan Lauter sagten nicht, wohin sie ihn brachten. Auch nicht, als ihr Wagen bereits die imposante alte Häuserfront passiert hatte und sich das wuchtige Schleusentor hinter ihnen schloss. Über Stunden stand der schmächtige Junge auf einem Büroflur, Menschen gingen wortlos an ihm vorüber. Als er einen der Unbekannten fragte, wo er sei, schlug der ihm mit einem Schlüsselbund ins Gesicht. Jetzt wusste Stefan Lauter, es würde noch schlimmer kommen.
An diesem 8. Februar 1985 kam der junge Berliner in den Jugendwerkhof Torgau: den einzigen Geschlossenen Jugendwerkhof der DDR. Zwischen 1965 und 1989 schleuste das von Margot Honecker geleitete Volksbildungsministerium etwa 4.000 Jugendliche durch das ehemalige Gefängnis. Die Kontrolle über die Jugendlichen auf dem 4.000 Quadratmeter großen Areal war nahezu perfekt. Wer in anderen Jugendhilfe-Einrichtungen aus der Reihe tanzte, wurde hierher geschickt. Auch Stefan Lauter, der zu fliehen versucht hatte.
Was ihm in den folgenden vier Monaten widerfuhr, erlitten auch die anderen Insassen, rund 40 Jungen und 20 Mädchen zwischen 14 und 17 Jahren: Zur Begrüßung kam er drei Tage lang in Einzelarrest, die Haare wurden ihm abrasiert. In Einheitskluft leistete er stupide Handwerksarbeit in der hauseigenen Werkstatt, Prügel und bis zu 14 Tage Einzelarrest waren gängige Erziehungsmittel.
Als Stefan Lauter wegen eines gequetschten Fingers in das Torgauer Krankenhaus gebracht wurde, kam er in Handschellen und Knebelkette in den Behandlungsraum. Der Vize-Direktor des Werkhofs, schildert der heute 37-Jährige, verweigerte ihm eine Betäubungsspritze mit den Worten: "Der kommt aus dem Jugendwerkhof. Der hält Schmerzen aus wie ein Indianer." Bis zu einem halben Jahr mussten die halben Kinder im Lager in der sächsischen Kleinstadt ertragen. Mindestens ein Insasse nahm sich im Werkhof das Leben, andere versuchten sich zu töten, indem sie Nägel oder Lack schluckten. Verzweiflung bestimmte das Lebensgefühl.
Die so genannten Erzieher verweigerten den Jugendlichen bewusst jegliche Privat- und Intimsphäre. Vom Aufstehen bis zum Einschlafen mussten sie alles im Laufschritt erledigen. Selbst beim Toilettengang waren sie nicht allein, sondern mussten warten, bis auch mehrere Mitinsassen aufs Klo mussten. Die Trennwände zwischen den Toilettenkabinen hatte die Werkhofleitung ausgebaut. Vor den Fenstern waren Gitter und Sichtblenden montiert. In der Arrestzelle gab es keine Matratze, zwei Decken mussten reichen, Blicke aus dem Fenster waren verboten. Wachttürme mit Suchscheinwerfern und Wachhunde sicherten das Gelände, das von einer rund vier Meter hohen, mit Glasscherben bewehrten Mauer umgeben war.
Viele leiden noch heute unter ihren Erinnerungen an diese Zeit. Das Vorurteil war weit verbreitet: Wer in Torgau sitzt, der wird schon etwas Schlimmes getan haben, und so hart wird es dort schon nicht sein. "Als ich nach Berlin zurückkehrte, wollte mir meine Mutter meine Schilderungen nicht glauben. Weder meine Berichte über die Prügel, noch über den Arrest", sagt Stefan Lauter und drückt seine Zigarette aus. Der Aschenbecher vor ihm füllt sich von Stunde zu Stunde. Seine Geschichte erzählt der hagere Mann mit den kurz geschnittenen blonden Haaren gefasst, er präsentiert sogar ein Paar eiserne Handschellen. Sie ähneln denen aus Torgau. Doch seine unruhigen Augen blicken zwischen den Zigarettenzügen immer wieder aus dem Fenster. Eine Art Atemholen vor dem nächsten Satz, der nächsten Erinnerung.
Heute arbeitet Lauter in einer Gedenkstätte in der ehemaligen Stasi-Zentrale, er will das DDR-Unrecht nicht in Vergessenheit geraten lassen. Der zweifache Vater gehört zu den wenigen, die für ihre Leiden eine Haftentschädigung durch die Bundesrepublik erhalten. Er konnte nachweisen, dass DDR-kritische Äußerungen in der Schule und sein Austritt aus der FDJ für seinen Weg nach Torgau mit verantwortlich gewesen waren. Seit dem Ende der DDR beharrte die gesamtdeutsche Rechtsprechung auf dem Grundsatz: Die Rehabilitierung eines ehemaligen Insassen ist nur möglich, wenn seine politische Einstellung den Betroffenen in den Werkhof gebracht hatte oder die Einweisung völlig unangemessen gewesen war.
Doch Ende Dezember rückte das Berliner Kammergericht von dieser Einzelfallregelung ab. Der Senat zur Rehabilitierung von DDR-Unrecht urteilte: Die Einweisung in den Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau war "mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbar", "verletzte die Menschenwürde grundsätzlich schwerwiegend". Zwar waren unter den Insassen auch besonders gewalttätige Jugendliche, darunter Neo-Nazis, weshalb andere Instanzen deren Rehabilitierung bislang abgelehnt haben. Die Berliner Richter befanden jetzt: Die Menschenwürde ist grundsätzlich wichtiger als solche Erwägungen. Eine Flut von Anträgen ehemaliger Werkhofinsassen gibt es dennoch nicht. In den Wochen seit der Urteilsverkündung haben sich nach Auskunft des Berliner Kammergerichts erst "sechs bis acht" Ex-Torgauer bei den zuständigen Gerichten gemeldet. Vermutlich hallt noch das alte Vorurteil über die Insassen nach - und damit die Scham vieler Ehemaliger, sich offen zu ihrem Aufenthalt zu bekennen.
Dabei waren die Jugendlichen offiziell nicht einmal Kriminelle. Kein Gericht hatte sie zu diesem Aufenthalt verurteilt.
Was an einen Hochsicherheitstrakt erinnerte, war aus Sicht der DDR-Führung das letzte Hilfsangebot der sozialistischen Gesellschaft an ihre fehlgeleiteten Sprösslinge. Aus Staatssicht hatten die Mädchen und Jungen hier ihre letzte Chance, "sozialistische Persönlichkeiten" zu werden. Ein Antrag eines Jugendwerkhofs beim Ministerium genügte für die Einweisung nach Torgau. Oft waren die "renitenten" Jugendlichen schon eingeliefert, während der Antrag offiziell noch bearbeitet wurde. Ihre Eltern wurden nur in wenigen Fällen angehört.
Noch immer ist das öffentliche Interesse am Schicksal der heute längst Erwachsenen gering. Die Internetseite www.jugendwerkhof.info bietet ehemaligen Insassen die Möglichkeit, sich zumindest untereinander auszutauschen: Wer war wann in welchem Werkhof? Wer hat Lust auf ein Wiedersehen? Auch auf dem weiträumigen Gelände des Jugendwerkhofs erinnert nur wenig an seine Geschichte, die bis ins Kaiserreich zurückreicht. Damals wurde das imposante Hauptgebäude errichtet, die Arrestanstalt des Königlichen Militärgerichts. Ende der 30er-Jahre kamen die Gefängnis-trakte hinzu, in denen später die Werkhofsinsassen lebten. Auf dem Lagergelände stehen heute Eigentumswohnungen, das Hauptgebäude ist saniert. Nur eine kleine Gedenkstätte im Hauptgebäude erinnert an die lange Tradition obrigkeitsstaatlicher Modelle von Erziehung und Bestrafung an diesem Ort.
Auch Stefan Lauter sprach lange Zeit kaum über seine Monate im Geschlossenen Jugendwerkhof, die erst am Tag vor seinem 18. Geburtstag endeten. Noch über Monate schrieb er Berichte über seine Lebensführung an die Werkhofleitung, dabei war er als Volljähriger dazu nicht mehr verpflichtet. Er tat es dennoch, aus Angst.
Sein Leben im wiedervereinigten Deutschland schien Stefan Lauter im Griff zu haben: BWL-Studium, Partnerschaft und Kinder, Rehabilitierung, Referentenarbeit in der Forschungs- und Gedenkstätte Normannenstraße. Doch das Uni-Studium musste er vor zwei Jahren abbrechen. "Es ging einfach nicht mehr. Ich verlor die Kontrolle über mein Leben und verstand nicht, wieso", sagt Lauter. Die Diagnose seines Arztes: posttraumatische Belastungsstörungen.
Erinnerungs- und Begegnungsstätte im ehemaligen Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau
Fischerdörfchen 15
04860 Torgau
Di. - Fr. 10 - 12 Uhr & 14 - 17 Uhr
Sa. - So. nach Vereinbarung
Führungen für Schulklassen und Gruppen kostenlos
Anmeldung unter 0 34 21/71 42 03
Email: ebs.info@jugendwerkhof-torgau.de