Es war ein außergewöhnliches Fest mit vielen Gesprächen, tiefen Gefühlen und gegenseitigem Kennenlernen." Karfreitag 2002 wird Brigitte Paulsen wohl für immer im Gedächtnis bleiben. An jenem Tag sah sie zum ersten Mal in ihrem Leben ihre Schwester Mylène Lannegrand aus Frankreich. Diese hatte als Tochter eines ehemaligen Wehrmachtssoldaten die Deutsche Dienststelle um Hilfe bei der Suche nach ihren deutschen Wurzeln gebeten. Mit Erfolg: Im Oktober 2001 machte die Deutsche Dienststelle Brigitte Paulsen ausfindig und vermittelte die Adressen zwischen den Schwestern. Es entstand ein reger Brief- und Telefonkontakt, ein halbes Jahr später folgte das erste Treffen.
Eine Geschichte, wie sie ohne die aufwändige Recherche der Suchdienste nicht möglich gewesen wäre. Da für die Bearbeitung derart komplexer Fälle oftmals mehrere Organisationen zuständig sind, möchte man diese Kooperation nun auch nach außen hin zeigen. So präsentiert das am vergangenen Dienstag in Berlin präsentierte Buch "Narben bleiben" eine Bilanz der Tätigkeit von insgesamt sieben Suchdiensten. Neben zahlreichen illustrierten Einzelfällen erhält der Leser einen Einblick in die Arbeitsweisen und die Erfolge der Organisationen. Und die können sich sehen lassen: Über 14 Millionen Fälle konnten seit der Nachkriegszeit geklärt werden. Noch immer verzeichnen die Suchdienste pro Jahr zwischen 15.000 und 20.000 Rechercheerfolge. Ein Ende ihrer Arbeit ist in näherer Zukunft nicht in Sicht. "Wer die Aktendeckel jetzt schließt, der sucht nicht mehr", so Reinhard Führer, Präsident des Volksbundes Deutscher Kriegsgräberfürsorge. Doch für die Schließung der Akten sei es auch 60 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zu früh. So gehen allein beim DRK-Suchdienst jährlich bis zu 4.000 neue Anfragen ein.
Noch immer gelten weiterhin 1,3 Millionen Menschen als vermisst. Die Wirren des Krieges haben ihre Schicksale als Soldaten, Kriegsgefangene, Flüchtlinge, Vertriebene oder Opfer von Bombenangriffen tief in den Archiven begraben. Ebenso leben bis heute tausende Menschen der Jahrgänge 1927 bis 1949 unter uns, die ihre wahre Herkunft nicht kennen. Als verwaiste Kriegs- bzw. Nachkriegskinder wurden sie von Adoptiveltern großgezogen und begeben sich nun auf die Spurensuche nach ihrer leiblichen Familie. "Die Hinterbliebenen sehnen sich nach einer endgültigen Gewissheit oder möchten endlich ihre tatsächliche Identität finden", gibt Kirsten Bollin, Leiterin des DRK-Suchdienstes Hamburg, die Motivation für das Einschalten eines Suchdienstes an.
Insbesondere die Öffnung russischer Archive in den 90er-Jahren hat den Zugang zu einer Unmenge an Akten ermöglicht, wovon zur Zeit über 2 Millionen digitalisiert werden. Diese Daten gelten als sehr zuverlässig, da oftmals Dokumente wie Krankenblätter, Personalbögen oder Soldbücher aufbewahrt wurden. Im Gegenzug erhalten die Osteuropäer Unterstützung von den deutschen Archiven, um die ihrerseits Vermissten ausfindig zu machen. Aus ehemaligen Feinden wurden Partner, deren gemeinsame Arbeit ein unverzichtbarer Bestandteil der Vergangenheitsbewältigung ist. Charles-Claude-Biedermann, Leiter des Internationalen Suchdienstes, weiß um die moralische Hilfe, welche die Suchdienste den Osteuropäern geben: "Für Gewissheit über die Schicksale von Angehörigen zu sorgen, ist die schönste Form der Wiedergutmachung."