Ehren wir die Freiheit. Arbeiten wir für den Frieden. Halten wir uns an das Recht. Dienen wir unseren inneren Maßstäben der Gerechtigkeit. Schauen wir am heutigen 8. Mai, so gut wir es können, der Wahrheit ins Auge." Kaum hat Bundespräsident Richard von Weizsäcker diese letzten Sätze seiner Gedenkrede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes gesprochen, bedanken sich seine Zuhörer im blumengeschmückten Plenarsaal des Bonner Bundestages mit anhaltendem Applaus.
Nicht nur die Mitglieder von Bundestag und Bundesrat, auch Diplomaten und Gäste aus allen gesellschaftlichen Bereichen haben an diesem 8. Mai 1985 eine Rede gehört, von der die FDP-Bundestagsabgeordnete Hildegard Hamm-Brücher sagt, dass sie in jedes Schulbuch gehöre. Und ihr sozialdemokratischer Parlamentskollege Horst Ehmke lobt die Worte des Bundespräsidenten sogar als "die größte Rede, die ich in diesem Hause je gehört habe".
In den folgenden Tagen erreichen das Bundespräsidialamt rund 38.000 Telegramme und Telefonanrufe, die dem Staatsoberhaupt der Bundesrepublik Deutschland Zustimmung und Anerkennung bekunden. Rund 1,5 Millionen Bürger fordern einen Nachdruck der Rede von Weizsäckers und eine jüdische Bürgerin, die im Holocaust vier Familienangehörige verloren hat, bedankt sich beim Bundespräsidenten für seine klaren, kritischen, aber auch einfühlsamen Worte zur historischen Bedeutung des 8. Mai 1945 mit einem Blumenstrauß.
Richard von Weizsäcker hat sich auf seine Rede gut vorbereitet. Vier Monate lang hat sich der Bundespräsident mit intensiver Lektüre und Gesprächen vorbereitet, ehe er im April 1985 den ersten Entwurf seiner Rede diktiert. Der am 15. April 1920 als Diplomatensohn in Stuttgart geborene von Weizsäcker hat Krieg und Nazi-Herrschaft als Student und Wehrmachtsoffizier miterlebt. Im so genannten Wilhelmstraßenprozess steht der junge Jurist seinem Vater Ernst 1948/49 als Hilfsverteidiger zur Seite.
Der Bundespräsident spricht deshalb an diesem 8. Mai 1985 nicht als über den Dingen stehendes Staatsoberhaupt, sondern als Zeitzeuge. Das verleiht seinen Worten besonderes Gewicht und Glaubwürdigkeit, wenn er etwa den 8. Mai 1945 als ein "Ende eines Irrweges" beschreibt. Der Zeitgenosse von Weizsäcker erinnert an diesem 8. Mai 1985 ebenso an das Leid, das Deutsche über andere Völker gebracht haben wie an das Leid, das sie vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg erlitten haben. Ausdrücklich warnt der Bundespräsident in diesem Zusammenhang davor, die Erinnerung an den 8. Mai 1945 und seine Folgen von der Erinnerung an den 30. Januar 1933 zu trennen.
Immer wieder sagt von Weizsäcker in seiner inhaltlich sehr dichten und sehr differenzierten Rede "wir" und "uns" und vermeidet so den Eindruck des moralisch erhobenen Zeigerfingers. Er macht klar, dass Schuld nicht kollektiv, sondern nur persönlich sein könne. Die junge Generation spricht von Weizsäcker in seiner Rede zwar von der Mitverantwortung für das historisch Geschehene frei, weist ihr aber die Verantwortung dafür zu, was daraus in der Geschichte werde. Und er bittet sie: "Hitler hat stets damit gearbeitet, Vorurteile, Feindschaft und Hass zu schüren ... Lassen Sie sich nicht hineintreiben in Feindschaft und Hass ... Lernen Sie miteinander zu leben, nicht gegeneinander."
Wie wichtig die Erinnerungsarbeit ist, die Richard von Weizsäcker leistet, zeigt die Kontroverse, die der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl und der damalige amerikanische Präsident Ronald Reagan auslösten, als sie neben der Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Bergen-Belsen den Soldatenfriedhof in Bitburg besuchten, auf dem auch Soldaten der Waffen-SS begraben sind. Wohl auch vor diesem aktuellen Hintergrund hatte Weizsäckers Rede in der Rückschau des Publizisten Martin Wein wegen ihres "strikten Mutes zur historischen Wahrheit" für viele Deutsche "eine reinigende und befreiende Wirkung".
Dieser Wirkung können auch die politischen Randerscheinungen der Gedenkstunde vom 8. Mai 1985 keinen Abbruch tun. Während seine Fraktionskollegen an der Gedenkstunde gar nicht teilnehmen, sondern das ehemalige Konzentrationslager Auschwitz besuchen, verlässt der grüne Abgeordnete Otto Schily mit seinen SPD-Kollegen Spöri und Schäfer am 8. Mai 1985 vorzeitig den Bonner Plenarsaal, um so gegen die Anwesenheit des ehemaligen Marinerichters und baden-württembergischen Ministerpräsidenten Hans Filbinger zu protestieren.