Die formale Unabhängigkeit der ehemaligen Kolonien in Afrika, Asien und der Karibik erfüllte aber keineswegs die Hoffnungen, welche die Bevölkerungen dieser Erdteile damit verbanden. Das "Reich der Freiheit", das die nationalistischen Politiker beschworen hatten, erwies sich für die Mehrzahl der Menschen in den neuen Staaten als Fortsetzung von Armut, Abhängigkeit und Bevormundung. Daran hat sich bis heute nur wenig geändert. Vertreter "postkolonialer" Ansätze in den Kultur- und Sozialwissenschaften sprechen davon, dass eine Vielzahl von Beziehungsmustern und Effekten kolonialer Herrschaft bis heute nachwirkt. Sie sehen die gegenwärtige Welt nach wie vor geprägt von neokolonialen Herrschaftsverhältnissen und kulturellen Beziehungen, die die alten Ungleichheiten reproduzieren und verfestigen.
Uneinigkeit besteht nicht nur darüber, wie die Spätfolgen der europäischen Fremdherrschaft für die ehemals kolonisierten Gebiete zu bewerten sind. Rege und kontroverse Debatten werden auch bezüglich der Ursachen und Umstände der Dekolonisation geführt. War es die Wucht nationalistischer Bewegungen, die die Europäer zum Rückzug bewegt hat? Oder war es die planvolle Einsicht der europäischen Mächte in die Notwendigkeit, ihre überseeischen Besitzungen in die Unabhängigkeit zu entlassen? Welche Rolle spielte in diesem Zusammenhang die Herausbildung einer bipolaren Welt nach dem Zweiten Weltkrieg?
Erstaunlich ist in jedem Fall, wie zügig der Prozess der Dekolonisation verlief. Innerhalb von zwei Jahrzehnten nach Ende des Zweiten Weltkriegs war das französische Kolonialreich in Afrika und Asien nahezu komplett verschwunden. Das Ende des britischen Empire verlief zwar zögerlicher, war aber zwei Dekaden nach der 1947 erfolgten Unabhängigkeit und Teilung Indiens ebenfalls mehr oder weniger abgeschlossen. 1945 existierten etwa auf dem afrikanischen Kontinent lediglich drei unabhängige Staaten: Liberia, Äthiopien und Ägypten. Nur 15 Jahre später war die Zahl bereits auf 27 gewachsen. Im Jahr 1960 erlangten 17 afrikanische Kolonien die Unabhängigkeit, vornehmlich im Norden, West und Osten des Kontinents. Kurz darauf schwappte die Dekolonisationswelle auch durch Ostafrika. Und Mitte der 70er-Jahre begannen die "weißen" Siedlerregimes des südlichen Afrika zu wanken, eine Entwicklung, die mit den ersten freien Wahlen in Südafrika 1994 ihren Abschluss fand.
Die nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzende Dekolonisation muss eigentlich, darauf hat zuerst der Freiburger Historiker Wolfgang Reinhard hingewiesen, als dritte Welle des Abbaus von Kolonialherrschaft bezeichnet werden. Die erste Dekolonisation wäre demnach die nationale Emanzipation der meisten europäischen Besitzungen in Nord- und Südamerika zwischen 1776 und 1825. Bei der zweiten Dekolonisation handelte es sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzende langsame Transformation der "Siedlungskolonien neuenglischen Typs" (Kanada, Australien und Neuseeland) in faktisch sich selbst regierende Staaten innerhalb des britischen Empires.
Über den genauen Beginn der dritten Dekolonisation scheiden sich die Geister. Mit dem Ersten Weltkrieg ging in vieler Hinsicht das "Zeitalter des Imperialismus" zu Ende, ein Ende der europäischen Kolonialreiche schien damals aber weiter entfernt denn je. Der amerikanische Präsident Woodrow Wilson betonte auf der Versailler Friedenskonferenz zwar das Selbstbestimmungsrecht der Völker, doch nirgendwo resultierte daraus unmittelbar die Unabhängigkeit von Kolonien. Der Völkerbund drückte den Paternalismus der Großmächte eindrucksvoll aus. In Artikel 22 seiner Satzung war von der heiligen Verpflichtung der zivilisierten Völker die Rede, welche die Verantwortung für die Völker Außereuropas übernehmen sollten, "die unter den anstrengenden Bedingungen der modernen Welt zur Selbständigkeit noch nicht fähig sind".
In den 20er-Jahren erreichte die koloniale Welt "das universalhistorische Maximum ihrer Ausdehnung" (Jürgen Osterhammel). Für die meisten Zeitgenossen in Europa erschien zu diesem Zeitpunkt ein Ende des kolonialen Systems unvorstellbar. Dieser Eindruck wurde nicht zuletzt durch die Tatsache bestärkt, dass überall in den Kolonien Prachtbauten und Stadtanlagen erschienen, die offenkundig für die Ewigkeit angelegt waren. Die koloniale Exportwirtschaft erfuhr einen beständigen Ausbau. Die Große Depression der 30er-Jahre unterbrach diesen Boom und führte etwa in Karibik und in einigen Regionen Afrikas verstärkt zu Streiks und Aufständen. Besonders in Asien formierten sich schlagkräftige antikoloniale Gruppierungen. In Indien, dem Zentrum des britischen Empire, entfaltete sich in der Zwischenkriegszeit eine machtvolle Nationalbewegung, welche die koloniale Fremdherrschaft immer nachhaltiger in Frage stellte. Der japanische Imperialismus in Fernost forcierte ebenfalls die Schwächung der europäischen Hegemonie.
Der Zweite Weltkrieg traf die europäischen Kolonialreiche schwer, brachte sie aber nicht unmittelbar zum Einsturz. Der Krieg selbst hatte kurzfristig sogar etwa das britische imperiale System gestärkt und, nicht zuletzt in Gestalt des Premiers Winston Churchill, imperiale Rhetorik wieder salonfähig gemacht. Die Ressourcen der kolonialen Besitzungen wurden in hohem Maße beansprucht, vor allem jene Indiens. Auch Afrika musste einen beträchtlichen Beitrag leisten. Schätzungsweise eine halbe Million afrikanischer Soldaten kämpfte allein in britischen Einheiten auf den Schlachtfeldern in Europa, Asien und Nordafrika. Bald offenbarte sich der Kontrast zwischen der ostentativen Bekundung, Freiheit und Demokratie seien die zentralen Ziele der Alliierten, und der Tatsache, dass die koloniale Herrschaft aufrechterhalten wurde. Dies entging auch zahlreichen Kolonisierten nicht.
So bestätigte die berühmte, auf Betreiben des amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt formulierte Atlantik Charta vom August 1941 zwar in Artikel 3, dass es das Recht eines jeden Volkes gebe, selbst die Regierungsform zu wählen, unter der es leben möchte. Doch Churchill, der verkündete, er sei nicht Premierminister seiner Majestät geworden, um über die Auflösung des britischen Weltreichs zu präsidieren, behauptete zunächst ungerührt, die britische Kolonialpolitik stehe in Harmonie mit der Charta. Im Verlauf des Krieges wichen auch auf Seiten der Vereinigten Staaten antikoloniale Postulate immer mehr einer pragmatischen Allianzpolitik. Die Zusammenarbeit mit Großbritannien und die Niederwerfung Deutschlands und Japans hatten für Washington Priorität. Dekolonisationspolitik und Koalitionskriegsführung ließen sich kaum vereinbaren.
Während die Kolonialmächte nach 1945 in Asien angesichts der massiven nationalen Bewegungen mehr oder weniger schnell resignierten, dachte in London und Paris zunächst niemand an eine rasche Aufgabe der afrikanischen Kolonien - im Gegenteil! Dort fand so etwas wie eine "zweite koloniale Besetzung" statt: Frankreich wie Großbritannien favorisierten in Afrika einen mit größeren Investitionen verbundenen "Entwicklungskolonialismus", der den Metropolen direkten Nutzen und den Afrikanern die für eine Unabhängigkeit nötige "Reife" bescheren sollte. Wellen von Experten wurden nach Afrika gesandt, um den Bauern neue Wege des Anbaus zu weisen und den Arbeitern neue Formen der Arbeit nahezulegen. Der Nachkriegsimperialismus war ein Imperialismus des Wissens.
Eine besondere Bedeutung in der sich nach dem Zweiten Weltkrieg abzeichnenden globalen Neuordnung kam dem Konzept der "Entwicklung" zu. Dieser Begriff sagte den Politikern der "unterentwickelten" Gesellschaften ebenso zu wie den Menschen in "entwickelten" Ländern. Denn er ließ beide teilhaben an dem intellektuellen Universum und der moralischen Gemeinschaft, die nach 1945 im Kontext weltweiter Entwicklungsinitiativen entstand. Diese Gemeinschaft teilte die Überzeugung, die Linderung der Armut sei durch ökonomische und soziale Selbstregulierung allein nicht möglich. Es bedürfe konzertierter Interventionen von Regierungen armer und reicher Länder in Zusammenarbeit mit der wachsenden Gruppe internationaler Hilfs- und Entwicklungsorganisationen.
Die Vereinigten Staaten sahen eine Zeitlang in Europas Herrschaft die beste Garantie für die Stabilität Afrikas, das zugleich wichtig war als strategisches Hinterland und Rohstofflieferant. Antikommunismus wurde in Washington wie in den westeuropäischen Hauptstädten zu einem zentralen Aspekt internationaler Politik. Insbesondere nach dem Ausbruch des Koreakriegs gerieten nationalistische, antikoloniale Kräfte quasi automatisch in den Ruch, Kommunisten oder wenigstens kommunistisch beeinflusst zu sein. Parallel stieg der Antikolonialismus zu einer weltweiten Bewegung auf. Nicht zuletzt auf die Initiative des indischen Premiers Jawaharlal Nehru intensivierten sich die afro-asiatische Solidarität und das Bündnis der Blockfreien. Die Vereinten Nationen boten damit ein wichtiges Forum für die jungen Nationen der ehemals kolonisierten Welt.
Als in Paris und London aus wirtschaftlichen und politischen Erwägungen die Entscheidung fiel, auch die afrikanischen Kolonien in die Unabhängigkeit zu entlassen, konnten sie den Machttransfer nur bedingt kontrollieren. Vor dem Hintergrund der Systemauseinandersetzung zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion in der kolonialen Welt bestimmte am Ende oft die Stärke der jeweiligen nationalistischen Gruppierungen den tatsächlichen Zeitplan der Dekolonisation.
Die Dekolonisation war Teil des Übergangs zu einer neuen Ordnung des Weltstaatensystems, die geprägt war durch die weltweite Konfrontation zweier hochgerüsteter Blöcke, der Entstehung zahlreicher postkolonialer Nationen sowie der ideologischen Ächtung von Kolonialismus bei häufig fortdauernder rassistischer Diskriminierung.
Andreas Eckert ist Professor am Historischen Seminar der
Universität Hamburg.