Die Sozialdemokraten ließen sich nicht so schnell beeindrucken: Nur einmal erhielt Bundesfinanzminister Theo Waigel (CSU) für seine Rede vor den Abgeordneten Beifall aus den Reihen der SPD-Bundestagsfraktion. Vor einer Woche, am 18. Mai 1990, hatten er und sein Amtskollege aus der DDR, Walter Romberg, den Staatsvertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion unterzeichnet. Nun, am 23. Mai, beschäftigte sich der Bundestag in erster Lesung mit dem Vertragswerk. Im Plenum spielten jedoch nicht Zahlen- und Rechenkonstruktionen die Hauptrolle, sondern die Würdigung historischer Veranwortung.
"Die gegenwärtige Entwicklung in Deutschland ist ohne historisches Vorbild. Die Revolution von 1848 misslang, weil die Demokraten damals zuviel auf einmal wollten, nämlich Freiheit, Demokratie und einen großen Nationalstaat." "Na bitte" antwortete ein Abgeordneter von der SPD nur auf diese Ausführungen Waigels. Zwar hatten die Sozialdemokraten grundsätzlich nichts gegen einen Staatsvertrag einzuwenden. Sie bemängelten jedoch seine Finanzierungsbasis. Die stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Ingrid Matthäus-Maier bezeichnete den von Bund und Ländern eingerichteten "Fonds Deutsche Einheit" als "Finanzierung der deutschen Einheit auf Pump". Mit Hilfe dieses Fonds sollten, so sah es der Vertrag vor, bis 1994 insgesamt 155 Milliarden D-Mark als Wiederaufbauhilfe für Ostdeutschland bereitgestellt werden.
Bereits im Februar 1990 hatten die Verhandlungen über eine Wirtschafts- und Währungsunion zwischen den Regierungen beider deutscher Staaten begonnen. Nach dem Sieg der konservativen "Allianz für Deutschland" bei den ersten freien Volkskammerwahlen der DDR am 18. März beschleunigte Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) ihr Tempo. Er ging von der Notwendigkeit aus, die Lebensbedingungen der DDR-Bürger durch wirtschaftlichen Wiederaufbau möglichst schnell verbessern zu müssen, um die deutsche Einheit erfolgreich verwirklichen zu können.
Die Annahme, dieses Ziel in kurzer Zeit zu erreichen, basierte auf einer optimistischen Prognose der fünf führenden westdeutschen Wirtschaftsinstitute. Deren Experten gingen davon aus, dass die wirtschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik durch Stabilität und zusätzliches Wachstum gekennzeichnet sein würde. Für 1990 sagten sie ein Wachstum von 3,7 Prozent und für 1991 sogar von vier Prozent voraus. Zugleich werde der "Wiedervereinigungsboom" die Arbeitslosigkeit stark reduzieren, ohne die Inflation über die Drei-Prozent-Grenze zu treiben. Die Bundesrepublik werde damit über genügend finanzielle Ressourcen verfügen, um für die Anpassung der ostdeutschen Renten, die Modernisierung der Infrastruktur und die Beseitigung der Umweltschäden in der DDR sorgen zu können.
Es gab aber auch kritische Stimmen. So warnte die Bundesbank vor einer zu hohen Bewertung der DDR-Währung, die die Stabilität der D-Mark gefährden könne. Politisches Kalkül verhinderte jedoch einen anderen Umtauschkurs als 1:1 beziehungsweise 1:2. Die Wahrheit über die erheblichen finanziellen Risiken des Einigungsprozesses belohnten die Wähler nicht.
Entsprechend euphorisch war der Tenor der Rede des Bundesfinanzministers vor dem Bundestag: Der Staatsvertrag "schafft den Rahmen, in dem die Deutschen in der DDR endlich ihr Leben in die Hand nehmen und lang gehegte Ziele und Wünsche verwirklichen können. Er bringt die Freiheit der Konsumenten. Er bringt die Vielfalt des internationalen Warenangebots in jeden Ort der DDR."
Doch mit dem Inkrafttreten der Währungsunion am 1. Juli verschwanden erstmal alle bisher bekannten Ost-Produkte aus den Regalen der Kaufhäuser in der DDR und wurden ersetzt durch Waren aus dem Westen. Die mussten die DDR-Bürger nun mit D-Mark bezahlen: Gestaffelt nach Lebensjahr konnten sie die DDR-Währung bis 6.000 Mark zum Kurs von 1:1 in D-Mark umtauschen und in diese internationale Warenwelt investieren. Nur verschwanden mit den Produkten auch ihre Arbeitsplätze.
Viele Befürchtungen hatten sich bestätigt: Weder konnte die ohnehin nicht konkurrenzfähige DDR-Wirtschaft sich unter den neuen Bedingungen behaupten, noch war die Bundesrepublik tatsächlich in der Lage, die Einheit ohne Aufwendung von Steuermitteln zu finanzieren - mit noch heute spürbaren Folgen. Die von der Kohl-Regierung versprochenen "blühenden Landschaften" im Osten Deutschlands sind über vereinzelte Ansätze nicht hinaus gekommen. Dies können auch die milliardenschweren Investitionen in die Infrastruktur nicht überdecken.