Zwei Tage vor meiner Musterung im Kreiswehrersatzamt Heidelberg hatte ich den Film "Die Brücke" von Bernhard Wicki gesehen. Ich war derart schockiert, dass ich drauf und dran war, Kriegsdienstverweigerer zu werden. Da ich aber von Jugend auf Kapitän werden wollte, überwog schließlich doch die Sehnsucht nach Meer und weiter Welt.
Am 1. April 1960 rückte ich als (verlängerter) Grundwehrdienstleistender beim dritten "Mausbattel" (Marineausbildungsbataillon) in Glückstadt an der Elbe ein. Viele unserer Offiziere waren noch Weltkriegsteilnehmer gewesen. Sie wie wir Matrosen ("Matrose Klose" - alles lachte darüber) waren mit dem für Militärs geradezu umstürzlerischen Konzept der Inneren Führung von Wolf Graf Baudissin konfrontiert. Manche lehnten das "innere Gewürge" ab; die meisten aber gaben sich ehrlich Mühe, das Konzept des Staatsbürgers in Uniform umzusetzen. Viele Ältere hegten einen wirklichen Groll auf Hitler und schienen sich geschworen zu haben, dass nie wieder eine deutsche Armee willenloses Werkzeug eines Diktators sein sollte.
Zudem: Baudissin war umwerfend; er befeuerte und beflügelte, wie man es selten erlebte. Er war voller Esprit und Charme, kombinierte historisches und militärisches Wissen wie wenig andere, formulierte knapp und entscheidungsreif, ein idealer Offizier.
Unsere obligatorische Auslandsfahrt war hart. Sie führte uns ins Mittelmeer und zu den Shetland-Inseln. Der Jahrgang vor uns war noch mit kohlebefeuerten Schiffen - wie unser Geschwader alles alte "Weltkriegsdampfer" - gefahren. In jedem Hafen musste gebunkert werden, diese Schwerstarbeit blieb uns erspart. Allerdings wurden wir, so ausdrücklich unser Kommandant, "an die Grenzen unserer Leistungsfähigkeit" herangeführt, sprich tagelang allenfalls zwei Stunden Schlaf. Nach einer Weile hatte er ein Einsehen,vier Stunden Schlaf.
In der Biscaya gab es den berüchtigten Sturm; wir "reierten", bis nichts mehr in uns war. Auf der Rückfahrt hatten wir im Skagerrak einen noch schlimmeren Orkan, zum Glück von achtern, der uns völlig unberührt ließ. Offenbar waren wir doch ein bisschen Seebären geworden.
In Bordeaux wurden wir kühl empfangen. Die Erinnerung an die deutsche Besetzung war noch zu frisch. Rasch hatte sich ein Komitee aus Resistance und Kommunisten gebildet, das auf Flugblättern "Deutsche raus!" forderte. Wir machten dann doch ein paar schöne Ausflüge, vor allem ins Medoc mit seinen berühmten Rotweinen. Bei "Chateau Lafitte de Rothschild" weiß ich noch immer genau, woher die Nobelmarke kommt.
Von meinen zwei Jahren Militärzeit habe ich zehn Monate auf Schulen zugebracht, vier auf der Technischen Marineschule Bremerhaven und sechs Monate an der Marineschule Mürwik, der Offiziersschule der Marine in Flensburg. Marine, das hieß büffeln, büffeln, büffeln, das Abitur war nichts dagegen. Mit dem Sextanten kann ich wohl vermutlich heute nicht mehr umgehen; damals war ich stolz, dass es mir gelang, die Sonne herunterzuholen und so eine genaue Ortsbestimmung zu machen.
In die Zeit in Mürwik fiel der Mauerbau in Berlin. Am 13. August 1961 war Bilderbuchwetter, ideal zum Segeln auf der Förde. Aber damit war nun nichts; die Kriegsgefahr stand unleugbar vor Augen. Unser Kommandeur informierte uns, dass wir, die jungen Seekadetten, dann Befehlshaber kleinster bewaffneter Schiffe würden, Fischkutter, Beiboote "und dergl." Solche "Dergel" hätte natürlich jeder feindliche Zerstörer auf Distanz vernichtet; ein Crewkamerad schnaubte denn auch zornig: "Als Kanonenfutter verheizt!"
Wegen der Berlinkrise wurde unsere Wehrdienstzeit auf 21 Monate verlängert; ich machte dann zwei Jahre, weil man die letzten drei Monate schon Offizier war. Meine erste WO-Stelle (Wachoffizier) hatte ich auf einem neuen Minensucher, der "Paderborn". Kaum an Bord, ging es in die Ostsee, um mehrere Winterwochen zwischen Kiel und Fehmarn TN zu fahren. TN, das war "taktische Nahaufklärung": Alle Schiffe aus dem Osten mussten registriert und mit Namen an einen NATO-Stab gemeldet werden. Da mehrere Schiffe ständig im Einsatz waren, hatte die NATO vermutlich einen recht guten Überblick über den Seeverkehr des Warschauer Pakts in der Ostsee.
Vor Fehmarn lag der berüchtigte "Krake". Das war ein größerer Minensucher der DDR, der aufreizend nah an den Hoheitsgewässern der Bundesrepublik ankerte und mit einen überdimensionierten Kanonenrohr ausgestattet war. Unsere Schnellboote, die mit fast 40 Knoten übers Wasser jagten, machten sich einen Jux daraus, möglichst nahe an das DDR-Boot heranzubrausen, um es durch den starken Wellengang ins Schaukeln zu bringen. Einmal klappte das Wendemanöver nicht; ein Boot krachte in voller Fahrt auf den Kraken; der Schaden war beträchtlich. Griff jetzt die NATO an? Für einen Moment stand der Ausbruch eines Krieges vor Augen. Dann wurde die Sache ohne großes Palaver beigelegt; die Marineleitung verfügte allerdings, dass das DDR-Boot im Mindestabstand von 500 Metern zu passieren sei.
Rückblickend habe ich den Eindruck, dass uns jungen "Lords" damals die brisante politische Lage zwischen Ost und West gar nicht so recht bewusst war. Ohne größere Blessuren überstand man die Zeit. Üble Schleifer oder Menschenverächter gab es nur wenige; aber ich erinnere mich an mehrere Offiziere und Bootsleute, die mir in schwierigen Situationen nobel zur Seite standen.
Dirk Klose ist Redakteur der Wochenzeitung "Das Parlament".