Das Parlament: Nach dem Tarifabschluss der Stahlindustrie war aus dem Arbeitgeberlager zum Teil scharfe Kritik zu hören. Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt sprach von einem "durch massive Streikandrohung erpressten Tarifabschluss". Woher kommt diese Nervosität?
Detlef Wetzel: Die Arbeitgeber sind angetreten, die prozentualen Einkommenserhöhungen grundsätzlich auf die Inflationsrate zu begrenzen. Der Stahlabschluss sollte dafür zum Modellfall werden. Diese Rechnung ist mit uns nicht aufgegangen. Dauerhafte Produktivitätsvorteile werden auch künftig dauerhafte Einkommensvorteile für die Beschäftigten bringen. Gewinne verbleiben nicht nur den Aktionären und Vorständen.
Das Parlament: Auch wenn die Stahl-Unternehmen derzeit Bilanzen mit Goldrand vorlegen können: Sollte die Nachfrage aus Asien abnehmen, könnte der Boom schnell vorbei sein. Hätte die derzeit einmalige Situation deshalb nicht besser über eine Einmalzahlung abgebildet werden sollen?
Detlef Wetzel: Wir haben nicht grundsätzlich etwas gegen Einmalzahlungen. Dadurch ist die reguläre Erhöhung des Monatseinkommens aber nicht zu ersetzen. Die Löhne von heute reichen nicht, um die Preise von morgen zu bezahlen. Nur planbare Einkommen schaffen Sicherheit. Nur auf dieser Basis kann der Binnenmarkt wieder Schwung bekommen.
Das Parlament: Anders als bei einer Einmalzahlung bleiben nach dem vereinbarten Abschluss die Einkommen auf hohem Niveau. Gibt dies die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Stahlkocher her?
Detlef Wetzel: Ständig werden in allen Betrieben der Branche Optimierungsprogramme umgesetzt, völlig unabhängig von aktuellen Tarifverhandlungen. Im globalen Wettbewerb haben nur die Standorte eine Perspektive, die Produktivitätsvorteile schaffen und nutzen. Wir sorgen in diesen Prozessen als IG Metall dafür, dass es dabei nicht zu betriebsbedingten Kündigungen kommt. Gerade vor diesem Hintergrund ist bei einem Kostenanteil von elf Prozent für Löhne und Gehälter in der Stahlindustrie die vereinbarte Einkommenserhöhung von 3,5 Prozent auch dauerhaft zu verkraften. Die sechs größten Unternehmen der Branche erwarten für 2005 etwa 2,1 Milliarden Euro Gewinn.
Das Parlament: Dennoch: Könnte der Stahlabschluss nicht zu einer Belastung etwa für die Automobilindustrie werden, wenn diese höhere Preise für ihre Vorprodukte zahlen müsste?
Detlef Wetzel: Die von Gesamtmetall-Präsident Kannegiesser heraufbeschworenen Folgen für die Kostensituation der weiterverarbeitenden Industrie sind natürlich an den Haaren herbeigezogen. Bei dem geringen Anteil der Lohnkosten an den gesamten Kos-ten der Stahlerzeugung und bei der geringen Belas-stung der erwarteten Gewinne ist eine preistreibende Wirkung der Tarifrunde völlig undenkbar, geradezu absurd.
Das Parlament: Hat die Kapitalismus-Debatte der IG Metall Rückenwind in den Stahl-Verhandlungen gebracht?
Detlef Wetzel: Wir konnten das in jeder Hinsicht angemessene Tarifergebnis erreichen, weil wir in den Betrieben der Branche sehr gut organisiert sind. Den Rückenwind gab es bei der anschließenden öffentlichen Bewertung. Das ist gut so. Schließlich muss es auch künftig darum gehen, die Menschen an guten Unternehmensgewinnen zu beteiligen.
Das Parlament: Welche Bedeutung haben die Kapitalismus-Debatte und der Stahlabschluss für die Tarifbedingungen in anderen Industrien?
Detlef Wetzel: Wir stehen vor der Alternative: Gilt weiter, dass gute Ertragslagen auch zu guten Einkommen und sicheren Arbeitsplätzen führen müssen; oder dienen Gewinne nur dazu, die Aktionärs- und Vorstandseinkommen zu erhöhen? Tarifauseinandersetzungen bleiben nicht Tagesschau-Veranstaltungen. Sie erfordern das Engagement aller Beschäftigten. Nur Belegschaften, die gut organisiert sind, werden in diesen Konflikten bestehen. Es geht also um Stärken oder Schwächen der Gewerkschaften - aber auch um die Stärken und Schwächen dieser Wirtschaft. Kann es sein, dass Unterlasser von Innovationen künftig noch mit ungehindertem Personalkostenabbau belohnt werden? Wird so der Dumpingwettlauf zum Prinzip dieser Wirtschaft?
Das Parlament: Wie offen ist die IG Metall für betriebliche Lösungen anstelle von Flächenvereinbarungen?
Detlef Wetzel: Wir tragen vielfältig zu betrieblichen Lösungen für Arbeitsplätze und Einkommen bei, jedoch nicht als Alternative zum Flächentarifvertrag. Gebündelt haben wir diese Initiativen in Betrieben und Branchen in der Modernisierungsoffensive "besser statt billiger". Damit unterstützen wir die betriebliche Auseinandersetzung um Innovations- statt Verzichtkonzepte. Wir helfen den Betriebsräten, die Konflikte um innovative Lösungen für dauerhafte Beschäftigungsperspektiven vorantreiben, mit vielfälti-gen Instrumenten und organisieren einen breiten Dialog über die hierbei gewonnenen guten Erfahrung. Im Rahmen unserer Tarifverträge haben wir zudem in NRW rund 400 laufende abweichende Vereinbarungen, mit denen Tausende Arbeitsplätze gesichert werden. Gerade kleine und mittlere Betriebe nutzen diese Lösungen. Eine Abweichung von der Fläche gibt es nur, wenn die Gegenleistung stimmt, wenn das aussichtsreiche Unternehmenskonzept geprüft ist und die Investitionszusage in sichere Arbeitsplätze steht.
Das Parlament: Im kommenden Frühjahr steht die Tarifrunde in der Metall- und Elektroindustrie an. Nicht nur in dieser Branche wollen mehr und mehr Firmen aus dem von ihnen als starr empfundenen Flächentarifvertrag ausbrechen. Wie reagiert die IG Metall auf diesen Trend?
Detlef Wetzel: Jedem Unternehmer, der versucht aus der Tarifbindung auszusteigen und den Lohndumping-Wettbewerb einzuleiten, kündigen wir unsere Gegenwehr an. Wer sich so entscheidet, der eröffnet die Tarifauseinandersetzung im Betrieb. Unternehmen ziehen es in der Regel vor, in die Bindung des Flächentarifvertrags zurückzukehren. "Tarif aktiv" ist zugleich eine Ansage an die Arbeitgeberverbände, die ihren Unternehmen eine Mitgliedschaft ohne Tarifbindung anbieten. Uns schreckt diese Haltung der Arbeitgeberseite mit Blick auf die kommende Tarifrunde nicht.
Das Parlament: Wie groß ist die Signalwirkung des Stahlabschlusses für Tarifverhandlungen in anderen Branchen?
Detlef Wetzel: Der Tarifabschluss Stahl ist ein stahltypischer, weil er sich mit der besonderen wirtschaftlichen Situation der Branche begründet. Signalwirkung hat er, weil damit generell die Teilhabe der Beschäftigten an den Gewinnen wieder auf der Tagesordnung steht. Die von den Arbeitgeber gewünschte Einbahnstraße des Verzichtens konnten sie nicht durchsetzen.
Das Gespräch führte Ulf Meinke, Wirtschaftsredakteur der
"Westdeutschen Allgemeinen Zeitung".