Als die Tür aufgeht, schreckt Klaus Richter* kurz auf. Senkt reflexartig die Stimme. Wartet. Aber nein, es ist kein Kollege. Niemand, den er kennt. Gut so.
Wir sitzen in einem Lokal in Offenburg, am Rande des Zentrums. Der Vorort wirkt schon am Morgen wie eine fluchtartig verlassene Kasernenstadt: frisch gestrichene Fassaden, spärlich behangene Wäscheleinen in den Vorgärten, zwei, drei Läden. Aber nirgendwo Menschen.
Das "Hubertus" ist hier noch eines der besseren Restaurants. Der Gastraum hat viele Winkel und wenig Licht. Im Halbdunkel sitzen ein paar vereinzelte Herren und widmen sich konzentriert ihrer Mahlzeit. Es riecht nach Wildgulasch und altem Holz, das in dicken Paneelen an den Wänden klebt. Niemand außer uns sagt ein Wort.
Richter, ein Mann um die Fünfzig, spricht leise. Manchmal flüstert er. Die Stille macht ihn nervös - man kann nicht wissen, wer zuhört. Und vor allem will er nicht gesehen werden, zusammen mit einer Journalistin, die wissen will, wie das damals war, vor fast zehn Jahren, als sein Arbeitgeber, die Burda Druck GmbH in Offenburg, ihm und seinen 1.200 Kollegen im Druckbereich eine Betriebsvereinbarung vorlegte, die massive Einschnitte für die Belegschaft vorsah: Arbeitszeitverlängerung ohne Lohnausgleich, Halbierung aller Zuschläge, schrittweise Streichung aller übertariflichen Zulagen, Kürzung des Jahresurlaubs.
Im Gegenzug verzichtete das Unternehmen auf die Auslagerung von Betriebsteilen und gab den Arbeitnehmern seinerzeit eine Beschäftigungsgarantie bis 31. Dezember 2000.
Abgesehen vom Heizungsbauer Viessmann hatte es bis Mitte der 90er-Jahre kein deutsches Unternehmen gewagt, ein solches Sparmodell durchzusetzen. Es war der entscheidende Schritt, der die so genannten "betrieblichen Bündnisse für Arbeit" hoffähig machte. Bald zogen andere Firmen nach. Und heute? Wenn Konzernlenker mit ihren Mitarbeitern um Zugeständnisse feilschen wie auf einem türkischen Basar, regt sich keiner mehr so auf wie damals - mit Ausnahme der Gewerkschaften, die dabei oft völlig umgangen werden.
Noch Jahre später ballen Vertreter der Arbeitnehmerverbände deshalb innerlich die Fäuste, wenn man das Gespräch auf das "Burda-Modell" lenkt. Denn während die Gewerkschaft IG Medien im Februar 1996 Burda den Bruch von Tarifrecht und Betriebsverfassungsgesetz vorwarf und versuchte, das Vorhaben des Unternehmens zu stoppen, bearbeiteten Betriebsrat und Geschäftsleitung die Mitarbeiter hinter verschlossenen Türen. Zeitgleich schloss Burda seine Druckerei in Darmstadt und 600 Leute standen auf der Straße.
Die Offenburger Kollegen gaben dem Druck schnell nach. 97 Prozent stimmten der Betriebsvereinbarung letztendlich zu - ohne irgendwas schriftlich zu haben. Die Kopie des geänderten Arbeitsvertrages drückte man ihnen erst Monate später in die Hand, als die Mehrheit der Mitarbeiter längst eingelenkt hatte. Da war das Burda-Modell gemachte Sache.
Klaus Richter, der als Tiefdrucker im Unternehmen arbeitet und schon als Lehrling bei Burda an der Druckwalze stand, hat diese Zeit noch gut in Erinnerung. "Mir ging es schlecht damals", sagt er. Hin und her habe er überlegt, was er tun soll. "Ich hatte große Angst um meinen Arbeitsplatz. Dazu kam die Schließung des Darmstädter Werkes. Nichts war auf einmal mehr sicher."
Richter traf eine Entscheidung. Er unterschrieb nicht. Verweigerte die Zustimmung zu einem Vertrag, für den Burda sich bis heute rühmt, weil er den Druckstandort Offenburg und hunderte Arbeitsplätze gerettet haben soll. Der Arbeiter aber hatte Zweifel an den Argumenten seiner Bosse: "Klar hat die Firma gesagt, wenn das Sparmodell nicht kommt, müssen einzelne Bereiche geschlossen werden, verlieren 400 Leute ihren Job. Aber hat sie konkrete Zahlen vorlegt? Konnte sie zeigen, warum die Situation so ernst ist? Nein. Es war für uns Mitarbeiter nicht nachvollziehbar, ob diese massiven Einschnitte wirklich notwendig waren und ob es nicht Alternativen gegeben hätte."
Weil Burda als Medienunternehmen laut Betriebsverfassungsgesetz dem so genannten Tendenzschutz unterliegt, war es dazu allerdings auch nicht verpflichtet. Aber: "Was hätte Burda daran gehindert, es doch zu tun?", fragt Richter. Obwohl er ruhig auf seinem Platz sitzt und nur gelegentlich an seinem Mineralwasser nippt, redet er, als wäre das alles erst gestern passiert. Er kennt jedes Detail, berichtet mit beherrschter Wut von den Ereignissen und wirkt gleichzeitig ernüchtert, müde von all den kleinen und großen Kämpfen, die er seither auszufechten hatte. Er, der seinen Chefs bis heute die Unterschrift versagt. Der Abweichler. Er ist vorsichtig geworden.
Sein Arbeitgeber, der Münchner Konzern Hubert Burda Media, ist eines der größten Medienhäuser Deutschlands. Ein Gigant im Geschäft mit bunten Illustrierten, ob Klatsch, Lifestyle oder harte News. Burda verlegt von Modejournalen ("Elle") bis hin zu erfolg- reichen "People-Magazinen" wie "Bunte", dem Nachrichtenmagazin "Focus" oder dem Männerblatt "Playboy" beinahe alles, was Rang und Namen hat auf dem Zeitschriftenmarkt.
Angefangen hat das mit einer kleinen Druckerei in Offenburg. Die hat sich im Laufe dreier Generationen, seit Gründung des Unternehmens durch den Großvater Hubert Burdas vor 100 Jahren, zu einem der größten Tiefdruckunternehmen Deutschlands entwickelt. Heute behauptet es sich auf einem heiß umkämpften Markt. Allein in Offenburg, der 58.000-Einwohner-Stadt im Mittelbadischen, arbeiten 2.500 Menschen für den Konzern, davon rund 1.200 in der Druckerei. Damit ist Burda der größte Arbeitgeber am Ort.
Doch obwohl aus dem kleinen mittelständischen Betrieb längst ein international operierender Konzern geworden ist, hat es der Burda-Clan, eine der einflussreichsten und anerkanntesten Unternehmerfamilien Deutschlands, geschafft, den Nimbus des traditionsreichen Familienunternehmens zu bewahren. Hier gibt es noch eine Art "Wir-Gefühl" unter den Arbeitern. Einen engeren Zusammenhalt, einen gewissen Stolz, dabei sein zu dürfen. Wir, die Burdaner, hieß es immer, und nicht zuletzt aus diesem Grund galt das Burda-Werk in der Hauptstraße lange als eine der vornehms-ten Adressen, bei der man in der Region arbeiten konnte.
Das hat viel mit Franz Burda zu tun. Dem "Senator", wie sie ihn hier nannten. Er hat das Unternehmen lange geführt, bis zu seinem Tode. Als er 1986 starb, starb auch eine Ära. Viele Offenburger kannten ihn, erzählen immer wieder gern die alten Geschichten. Von Burda, der seine Drucker noch beim Namen gekannt hat. Der billige Wohnungen für sie gebaut hat und sogar einen Sportclub samt Tennisplatz, Freibad und Kneipe, um Rückenleiden infolge der körperlich anstrengenden Arbeit zu mindern; dem Alten, einem Menschenfreund und Kunstliebhaber, der mal eben durch die Druckerei gelaufen sei und jedem persönlich einen 500-Mark-Schein in die Hand gedrückt hat - als Weihnachtsgeld. Dem Patriarchen, der, als Mitte der 70er-Jahre die Druckindustrie zu einem bundesweiten Streik aufgerufen hatte, befand, in seinem Unternehmen werde nicht gestreikt - und dann mitsamt seiner 1.000-köpfigen Belegschaft in die Berge fuhr und ein Fest spendierte, von dem noch heute alle reden.
Das ist Vergangenheit. Nach seinem Tode übernahm sein Sohn Hubert den Konzern. Seither sind die Zeiten rauer geworden: Das Unternehmen muss sparen. Die Konkurrenz auf dem Druckmarkt ist groß und Dumping-Anbieter drücken die Preise. Auch Burda musste Werke ins Ausland verlagern. Nach Bratislava etwa oder Vieux-Thann im Elsass.
Doch noch ist Burda in Offenburg groß. Zahlreiche Druckpressen halten das beschauliche Provinzstädtchen im Ländle gewissermaßen mit am Laufen. Offenburg, das bedeutet eine im Bundesvergleich niedrige Arbeitslosenquote um fünf bis sechs Prozent und einen einigermaßen gesunden Mittelstand - kaum denkbar ohne die Präsenz des Medienhauses. Die rief lange Kritiker und Neider auf den Plan: Sie nannten die Stadt früher spöttisch nur "Burdapest".
Die "Burda-Pest": Das 67 Meter hohe Burda-Hochhaus mit dem weithin sichtbaren Schriftzug "Hubert-Burda-Media" ist noch heute so was wie das Wahrzeichen der Stadt. Heute heißt es, der neuen Zeit angepasst, "Media-Tower", und wurde gerade mit großem Aufwand generalsaniert.
Burda ist in Baulaune: Vor Wochen erst hat der Konzern das rund 50 Millionen Euro teure neue Druckzentrum hinter dem Bahnhof eröffnet. Dort stehen jetzt die modernsten Druckmaschinen, die derzeit zu haben sind. Zuvor hat Burda ein neues Parkhaus gebaut. Und dann den "Medienpark", ein halbmondförmiges Gebäude, in dem jetzt Redaktionen wie die "Freizeit Revue" oder "Mein schöner Garten" residieren.
Millioneninvestitionen, angesichts derer sich die Belegschaft heute die Augen reibt: So schlecht soll es dem Konzern doch noch vor wenigen Jahren gegangen sein. Woher kommt nun das ganze Geld? Klaus Richter hat sich diese Frage auch schon gestellt und sagt, was viele denken: "Da ist unser Geld verbuddelt."
Dieser Gedanke ist auch Ludwig Thieme* schon gekommen. Und der schmerzt. Denn Thieme hat dem Druck damals nachgegeben und unterzeichnet. Er hat der Änderung seines Arbeitsvertrages zugestimmt und auf Teile seines Lohns verzichtet. Um seinen Arbeitsplatz zu halten. Um Burda zu halten.
Und jetzt? Arbeitet der Tiefdrucker mehr als zuvor und wundert sich über die "Prestigeobjekte" des Konzerns, die plötzlich wie Pilze aus dem Offenburger Boden schießen.
Der Endvierziger wirkt wie einer, der gerne glauben wollte, was seine Chefs ihm und den anderen vor neun Jahren über die Situation des Unternehmens gesagt hatten. Der unterschrieben hat, weil er keine andere Möglichkeit für sich und seine Familie sah. Und der heute manchmal zweifelt, ob diese Einschätzung richtig war.
Die Kinder waren noch im Schulalter, als er plötzlich auch an Wochenenden und in der Nacht arbeiten musste. Von den finanziellen Folgen mal ganz abgesehen: "Die Geschäftsleitung hatte von zwei bis drei Prozent Einkommenseinbußen gesprochen. Letztlich aber waren es 1999, nachdem die letzten Zulagen wegfielen, fast 20 Prozent", sagt Thieme, und erzählt, wie schwierig seine Situation in dieser Zeit war: "Ich hatte doch gerade ein Haus gebaut, stotterte Jahr für Jahr die Raten ab. Drei Jahre später halten sie mir den Vertrag hin und sagen: Sie sollten das unterschreiben. Sonst ist nachher ihr Arbeitsplatz weg oder Sie arbeiten nur noch 30 Stunden die Woche. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich darauf einzulassen."
Nur 14 Leute, unter ihnen Klaus Richter, widersetzten sich dem Sparmodell. Sie zogen vor Gericht und schlossen einen Vergleich. Denn dass man ihnen plötzlich das Messer an die Brust hielt, sie nur noch 30 Stunden arbeiten sollten, wollten sie nicht einfach hinnehmen.
Sie bekamen Recht: Burda musste einlenken, garantierte schließlich eine Wochenarbeitszeit von 35 Stunden. Nur mussten die Kläger dafür auf alle übertariflichen Zuschläge, auf Überstunden und Wochenendarbeit verzichten - und auf die Beschäftigungsgarantie.
Das war für die meisten von ihnen zu viel, sagt Richter. "Mit mir gibt es nur noch vier Leute, die durchgehalten haben. Alle anderen haben still und heimlich irgendwann doch unterschrieben, weil das Geld einfach nicht reichte."
Leichter für ihn ist es seither nicht gerade geworden. Einzelne Abteilungsleiter und Teile der Geschäftsführung haben ihn genau im Blick. Kollege Thieme will beobachtet haben, dass Richter und die anderen Verweigerer, gerade in den ersten Monaten, behandelt wurden wie "Aussätzige". Man habe sie getriezt und schikaniert, sagt er, immer wieder gedrängt, doch einzulenken.
Wenn er das sagt, spürt man, dass es wohl auch die Angst vor solchen Repressalien war, die ihn zur Unterschrift bewogen hat. Angst, das fünfte Rad am Wagen zu sein. Schuld zu tragen, wenn Kollegen gekündigt wird.
"Nötigung" sei das gewesen, findet Thieme heute. Man habe die Leute regelrecht überfahren, ihnen keine Zeit gelassen, richtig über alles nachzudenken.
Und der Betriebsrat? Der habe lieber mit der Geschäftsleitung gekungelt, mit den Bossen gemeinsame Sache gemacht. "Der Vorsitzende, Helmar Kaufmann, hat sich das doch von denen da oben diktieren lassen", meint Thieme, und erzählt kopfschüttelnd, wie die selbst gewählten Arbeitnehmervertreter und die Konzernleitung dann in Gruppengesprächen massiv auf die Mitarbeiter eingewirkt hätten. Der Gewerkschaft blieb später nur, den abtrünnigen Kaufmann aus ihren Reihen auszuschließen.
Klaus Richter macht die Arbeit seither keinen Spaß mehr. Er fühlt sich über den Tisch gezogen. Und selbst Ludwig Thieme, der sich noch immer um Verständnis für die Sparmaßnahmen bemüht, "sollten sie wirklich notwendig gewesen sein", findet, dass die "scharfe Tonlage" seitens der Unternehmensleitung damals unangemessen war. Aber, sagt er, mit der Zeit relativiere sich auch vieles. Besonders wenn man sehe, dass es anderen Unternehmen auch nicht so rosig geht. "Im Burda-Druckwerk im französischen Vieux-Thann zum Beispiel arbeiten die Kollegen für die Hälfte."
Und Burda zahlt, obwohl längst nicht mehr Mitglied im Arbeitgeberverband, nach wie vor Tariflohn - einschließlich Weihnachts- und Urlaubsgeld.
Von den Mitarbeitern selbst finanziert? Immerhin spart der Konzern durch das Burda-Modell noch immer mehrere Millionen Euro Personalkosten im Jahr - und das obwohl Teile der Vereinbarung längst nicht mehr in Kraft sind. Und eine Beschäftigungsgarantie gibt es auch nicht mehr. Durch Vorruhestandsregelungen und die Auslagerung von Abteilungen wurden zuletzt wieder einige Arbeitsplätze abgebaut.
Dennoch ist etwas passiert in Offenburg: Herausgeputzt und mit Investitionen vollgepumpt scheint der Standort wenigstens für die nächste Generation gesichert zu sein. Wenn alles gut läuft, kommen in den folgenden Jahren sogar noch ein paar Druckmaschinen dazu. Kommunen wie Kehl oder das französische Vieux-Thann, die sich neben Offenburg um den Standort des neuen Druckwerkes beworben hatten, blieben auf ihren günstigen Angeboten sitzen. Dabei hätten sie Burda zum Schluss am liebsten fast alles geschenkt.
Klaus Richter sagt deshalb, man müsse es dem Konzern hoch anrechnen, dass er in Offenburg bleibe. Trotz aller Kritik. Denn er weiß auch: "Weil Hubert Burda an Offenburg hängt, hat der Konzern ein paar Millionen draufgelegt."
War das Burda-Modell also doch der richtige Weg? Ludwig Thieme ist skeptisch. "Darüber kann man nur spekulieren", sagt er, und fragt sich, ob denn tatsächlich 400 Leute entlassen worden wären, hätten die Mitarbeiter das Modell abgelehnt. "Vielleicht wollte Burda auch nur mal sparen, um sich Wettbewerbsvorteile zu verschaffen?" Er weiß keine Antwort.
Richter versucht sich erst gar nicht in Zurückhaltung. Sein Urteil: Die Maßnahme habe dem Konzern, wenn überhaupt, nur kurzfristig geholfen. Bald werde es neue Streichungen geben, ganz sicher, und im Übrigen, sagt er, ganz sachlich, würden im Verladebereich bereits erste Outsourcing-Maßnahmen durchgeführt.
"Die haben doch Geld", sagt Richter. Hätten einen solchen Sparplan gar nicht nötig gehabt. "So aber hat sich der Konzern mal eben auf Kosten seiner Mitarbeiter saniert."
Seine Wut darüber ist groß, aber er weiß auch: Er kann sich nicht einfach irgendwo anders bewerben, in seinem Alter, bei der Lage auf dem Druckmarkt. Er kann nur warten. Und hoffen, dass sein Arbeitsplatz noch eine Weile sicher ist.
Doch genau das macht ihm Sorgen.
Er weiß: Seit Wochen laufen wieder Herren mit Schlipsen und ernsten Mienen durch die Abteilungen. Es sind Mitarbeiter einer Unternehmensberatung. Sie untersuchen Arbeitsabläufe und weitere Einsparpotenziale.
* Namen von der Redaktion geändert.
Johanna Metz ist Volontärin bei "Das Parlament".