Beide Erwartungen beziehungsweise Befürchtungen erweisen sich als übertrieben. Konservative Parteien und Arbeitgeber in Deutschland hatten gehofft, die paritätische Mitbestimmung auf dem Umweg über Brüssel auch zu Hause zurückdrängen zu können. Regierung und Gewerkschaften wollten umgekehrt einen möglichst weitgehenden Export des Modells. Sie wollten verhindern, dass die Mitbestimmung über EU-Regelungen aufgeweicht wird. Die Fusionsrichtlinie wird den Export der deutschen Arbeitermitbestimmung in engen Grenzen erlauben. Die Regierungen der 25 Mitgliedstaaten und der Rechtsausschuss des EU-Parlaments haben dem Kompromiss bereits zugestimmt. Dieser sieht vor, dass bei grenzüberschreitenden Fusionen die Vorgaben des Herkunftslandes gelten.
Stammen die fusionierenden Unternehmen aus Ländern mit unterschiedlich hohem Mitbestimmungsniveau, sollen Konzernleitung und Arbeitnehmer versuchen, das Maß der Vertretung auszuhandeln. Kommt keine Einigung zustande, bleibt im Falle eines deutschen Unternehmens die paritätische Mitbestimmung nur dann erhalten, wenn mindestens ein Drittel der Belegschaft aus Deutschland stammt. Steuert der deutsche Teil des fusionierten Unternehmens weniger Arbeitskräfte bei, kann die Mitbestimmung ganz wegfallen. Deutschland war zuletzt mit der Forderung gescheitert, die Schwelle für den Export des Mitbestimmungsmodells niedriger zu halten. Eine Übernahme des paritätischen Modells sollte schon möglich sein, wenn nur ein Viertel der Beschäftigten im fusionierten Unternehmen in Deutschland tätig ist. Man hatte sich dabei an der Vorgabe der Richtlinie zur so genannten Europa AG orientiert. Dort war die Hürde mit 25 Prozent tiefer angesetzt worden. Im EU-Parlament wollen sich die Sozialdemokraten noch einmal für die arbeitnehmerfreundlichere Schwelle stark machen. Der Export des deutschen Modells unterliegt aber ohnehin einer weiteren Einschränkung.
EU-Mitgliedstaaten wie Großbritannien oder Italien, in denen Aufsichtsrat und Vorstand in einem Gremium zusammengefasst sind, können den Einfluss der Arbeitnehmer per Gesetz auf ein Drittel begrenzen. Der Streit um die Mitbestimmung ist in Brüssel eine weitgehend deutsche Debatte geblieben. Die EU-Kommission wird dabei in der Rolle des Sündenbocks dargestellt, die sich den Kampf gegen die Mitbestimmung auf die Fahne geschrieben habe. Dabei ist die Kommission als Hüterin der EU-Verträge neben Ministerrat der Regierungen und dem EU-Parlament nur eine von drei Institutionen, die im Fall der Fusionsrichtlinie mitreden konnten.
Widerstand gegen den deutschen Export kommt vor allem von Mitgliedstaaten, in denen die Mitbestimmung nicht verbindlich ist, und die befürchten mussten, dass ihre Unternehmen gezwungen werden könnten, obligatorische Mitbestimmungsrechte einzuführen.
In 18 der 25 EU-Mitgliedstaaten ist Mitbestimmung gesetzlich geregelt. Die drei baltischen Staaten, Zypern, Großbritannien, Italien und Belgien kennen keine verpflichtende Arbeitnehmermitsprache. Bei der Kommission bestreitet man, einen Vorbehalt gegen die Mitbestimmung zu haben. Die Kommission hatte sich ursprünglich für eine arbeitnehmerfreundlichere Lösung ausgesprochen als sie jetzt dem Parlament vorliegt. Mitbestimmung dürfe aber kein Hindernis für grenzüberschreitende Fusionen von Unternehmen darstellen. Die Kommission plädiert in einem Papier: "Die Mitbestimmung der Arbeitnehmer sollte nicht als Hemmnis angesehen werden." Sie könne zum Erfolg des Unternehmens beitragen. Auch Interessenvertreter der Gewerkschaften in Brüssel bestreiten, dass Firmen mit paritätischer Mitbestimmung im globalen Wettbewerb oder etwa bei Fusionen benachteiligt seien. Zumindest gebe es dafür keine wissenschaftlich erhärteten Erkenntnisse. Es gebe auf der anderen Seite Unternehmen, die der Frage der Arbeitermitsprache misstrauisch gegenüber stünden, gesteht die Kommission ein.
Die Richtlinie biete die Möglichkeit, mit Unternehmen aus anderen Mitgliedstaaten zu fusionieren, was früher nicht ohne beachtliche Schwierigkeiten möglich gewesen sei. Unternehmen und Arbeitnehmer hätten neu die Möglichkeit, neue Mitbestimmungsvereinbarungen auszuhandeln, die sich von den in ihren Unternehmen bestehenden Regeln unterscheiden. Nur wenn keine Einigung erzielt werde, komme als Auffanglösung die Regelung des Mitgliedstaats mit den strengsten Anforderungen zum Zug. Aus der Sicht der Kommission ist die Fusionsrichtlinie ein großer Schritt vorwärts. Auch Klaus-Heiner Lehne (CDU), Berichterstatter des Europäischen Parlamentes und rechtspolitischer Sprecher der EVP-ED-Fraktion, spricht von einen "ausgewogenen Kompromiss, der die verschiedenen Vorstellungen in der EU unter einen Hut bringt". Das Modell der Drittelparität sei in vielen mittel- und osteuropäischen Staaten verbreitet. Lehne sieht in dieser Lösung auch einen Beitrag zur aktuellen Diskussion um die Zukunft der Arbeitnehmermitbestimmung in Deutschland. "Wir sollten die Augen vor attraktiven Modellen unserer EU-Partner nicht verschließen."
Die Debatte über die paritätische Mitbestimmung ist auf dem Umweg über Brüssel wieder in Deutschland angekommen. Doch auch in Brüssel dürfte die Mitbestimmung auf dem Tisch und unter Druck bleiben. Die Fusionsrichtlinie sei nur das Vorspiel für ein weiteres europäisches Gesetz, vermutet ein Gewerkschaftsvertreter in der EU-Hauptstadt: Eine so genannte 14. Richtlinie soll nach ähnlichem Muster grenzüberschreitende Firmensitzverlegungen von Unternehmen erleichtern. Damit wäre der Flucht aus starken Mitbestimmungssystemen endgültig Tür und Tor geöffnet.
Stephan Israel ist EU-Korrespondent in Brüssel für die
NZZ am Sonntag.