Auf eine Faustformel gebracht, ließe sich sagen: das Abräumen gewerkschaftlicher Errungenschaften geht dreimal schneller als ihre Durchsetzung brauchte. Das gilt für die Mitgliederzahlen der Gewerkschaften, für ihre tarifpolitische Bilanz bei Geld und Arbeitszeit, für ihre sozialpolitische Errungenschaften und nicht zuletzt für ihr gesellschaftliches Ansehen. Gäbe es einen Index für den Respekt, der den Arbeitnehmerorganisationen von Politik, Wirtschaft und Medien entgegengebracht wird, so würde sich die Faustformel auch hier bestätigen.
Warum eigentlich? Bei Lichte besehen, vertreten die Gewerkschaften die legitimen Interessen von Bevölkerungsmehrheiten. Im ideologischen Wettkampf mit dem Neoliberalismus würden sie bei jedem unbestochenen Schiedsrichter einen klaren Punktsieg davon tragen. Die gewerkschaftlichen Analysen haben sich bestätigt, während die Therapien der Marktradikalen das glatte Gegenteil ihrer Verheißungen zeitigen: die versprochene Kettenreaktion Lohnverzicht/Sozialabbau - Gewinnsteigerung - Investitionen/Wachstum - Arbeitsplätze/Wohlstand ist beim zweiten Kettenglied hängen geblieben. Eine zunehmende Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich ist das messbare Resultat, aber weder Wachstum noch Beschäftigung. Die einfache Frage, mit welchem Geld der deutsche Arbeitnehmer dann konsumieren soll, bleibt unbeantwortet, ihre Ignorierung hat erst richtig in die Wirtschaftskrise hineingeführt. Die Politik der Arbeitszeitverlängerungen hat die Massenarbeitslosigkeit in schwindelnde Höhen getrieben, weil sie eine Kompensation der produktivitätsbedingten Erübrigung von Arbeit durch Arbeitsumverteilung seit Jahren verhindert.
Warum hat nicht Erfolg, wer Recht hat? Weil Recht bekommen, nicht vom Rechthaben abhängt, sondern von Macht und Möglichkeit, in Interessenauseinandersetzungen das Recht oder das Richtige auch durchsetzen zu können. Praktische Erfahrungen mit der tatsächlichen Machtverteilung machen Arbeitnehmer und Gewerkschaften täglich. Zum Beispiel, wenn sich der Arbeitgeber eines durchaus hoch rentablen und exportstarken Unternehmens an seinen Betriebsrat wendet und von ihm ein "betriebliches Bündnis zur Standortsicherung" mit Personalkostensenkungen von 20 Prozent fordert, weil man ansonsten die anstehende Produktlinie in Rumänien oder China ansiedeln werde. Nachdem ausgeschlossen werden konnte, dass es sich nur um einen Bluff handelte, und einige kleinere Zugeständnisse gemacht wurden, lenkt der Betriebsrat meist mit widerstrebender Zustimmung der Gewerkschaft ein. Alternativen: keine. Sehr wohl war man sich dabei bewusst, dass dies einen negativen Dominoeffekt für den Flächentarifvertrag auslösen würde und dass solche Standortsicherungsverträge makroökonomisch irrational sind, weil sie eine weitere Schwächung der Nachfrage bewirken.
Das mangelnde Bewusstsein war nicht das Problem, sondern die reale Machtverteilung. Hinzu kommt für die Gewerkschaften die desavouierende Ausstrahlung dieses Schlüsselkonflikts. Politisch-programmatisch vertreten sie, zu Recht, das Prinzip "Lohnverzicht schafft keine Arbeitsplätze", aber wenn es darauf ankommt, beteiligen sie sich an Lösungen à la "Lohnverzicht rettet Arbeitsplätze". Sie stimmen damit im praktischen Handeln der Ideologie der Gegenseite zu, die sich mit jedem medial ausgetragenen Einzelfall wunderbar reproduziert. Die richtig gestellte Frage lautet also: Warum haben sich die Machtverhältnisse so dramatisch zulasten der Gewerkschaften verschoben?
Gewerkschaftliche Macht in der privaten Marktwirtschaft ist immer nur mehr oder weniger Gegenmacht. Die Arbeitgeberseite hat durch die Garantie des Privateigentums an Produktionsmitteln ein machtpolitisches Prä, dem die Arbeitnehmer nur in dem Maße ein Gewicht entgegensetzen können, wie sie die Konkurrenz untereinander als Arbeitskraftanbieter auf dem Arbeitsmarkt eingrenzen können. Jeder Einzelne ist dem Arbeitgeber hoffnungslos unterlegen, auch die solidarisch zusammenstehende Belegschaft eines Betriebs ist es noch. Erst eine Koalition der Arbeitnehmer einer Branche ist in der Lage, der Arbeitgeberseite Paroli zu bieten. Das Produkt dieser relativen Machtbalance heißt Flächentarifvertrag - die Konkurrenz der Unternehmen einer Branche um die niedrigsten Lohnkosten und Sozialstandards wird ausgeschlossen, alle weiteren Wettbewerbsdimensionen bleiben unangetastet.
Mit einem solchen Konsens, wie er den rheinischen Kapitalismus prägte, konnten auch die Arbeitgeber gut leben. Die ökonomische Globalisierung hat diesen relativen Frieden gesprengt. Migration und Mobilität von ArbeitnehmerInnen sind sprunghaft und grenzüberschreitend angestiegen. Wenn ein deutsches Unternehmen die Option hat, einen Standort hier, in Rumänien oder China anzusiedeln, wird die Arbeitskraft in China, Rumänien und hier kostenmäßig direkt vergleichbar, abrufbar und gegeneinander ausspielbar. Wenn Dienstleistungsfreiheit hergestellt wird, geraten Ingenieure, Ärzte oder IT-Spezialisten in Deutschland, Mallorca und Indien in direkte Konkurrenz zueinander. Es ist also tendenziell ein nach Branchen segmentierter Weltarbeitsmarkt entstanden.
Die Grenzen des Arbeitsmarkts, innerhalb derer die Gewerkschaften die Arbeitnehmerkonkurrenz ausschalten müssen, haben sich verschoben. Nationale Tarifverträge mögen sich weiter Flächentarifverträge nennen und von den Gewerkschaften unter diesem Motto verteidigt werden. De facto und ökonomisch gesehen sind sie Tarifverträge in nationalen Segmenten globaler Arbeitsmärkte - und können als solche eben nicht mehr funktionieren. Die Arbeitgeber verabschieden sich von einer solchen tariflichen Regulation, weil die Gewerkschaften ihnen nicht mehr versprechen können, dass ihre Wettbewerber auf dem gleichen Markt, von den gleichen - besser: vergleichbaren - tariflichen Regelungen erfasst sind und damit ausgeschlossen ist, dass sie sich über niedrigere Lohnkosten einen Wettbewerbsvorteil verschaffen.
Das Kapital streift die nationalen Fesseln ab und verschiebt von seiner globalen Handlungsebene aus die nationalen und lokalen Machtverhältnisse. Der gewerkschaftliche Handlungsrückstand beläuft sich auf inzwischen 15 bis 20 Jahre. Und das scheint es noch nicht gewesen zu sein: Von den Einen in den Gewerkschaften wird die Globalisierung nach wie vor als großer Bluff der Gegenseite abgetan, deren Erpressungspotenzial mit Verweis auf die hohe Profitabilität oder die großen Exporterfolge vom Tisch gewischt - sozusagen nichts Neues seit Dschingis Khan. Von anderen wird Globalisierung als Naturgesetz verstanden. Motto: Wo man nichts ändern kann, muss man sich geschickt anpassen, nämlich mit einer sozial geläuterten Standortlogik. Viel zu schwach entwickelt, widersprüchlich und unzureichend betrieben sind Ansätze wie europäische Tarifkoordination, Euro-/Weltbetriebsräte, grenzüberschreitende Kooperationen.
Es ist den Beteiligten gegenüber ungerecht, ihnen ökonomischen Unverstand oder gar Verrat an den gewerkschaftlichen Idealen vorzuwerfen. Wenn es eine Schuld am Bedeutungsverlust der Gewerkschaften gibt, dann liegt er in ihrer "selbst verschuldeten Unmündigkeit", die Veränderungen ihrer Handlungsbedingungen - und damit eigentlich sich selbst - zu verstehen.
Wenn die Gewerkschaften nicht noch weiter an Boden verlieren wollen, werden sie sich mit nachholendem Tempo und höchster Priorität und trotz der unendlich vielen unüberwindbar scheinenden Schwierigkeiten an die Fersen des Kapitals heften und sich selbst globalisieren müssen.
Werner Sauerborn arbeitet bei ver.di in Baden-Württemberg als
Referent für Grundsatzfragen.