Die steigende weibliche Erwerbsbeteiligung ist der wichtigste gesellschaftliche Wandel seit der Industrialisierung. Vor dem Hintergrund gleicher oder sogar besserer Bildungsabschlüsse betrachten Frauen ihre bezahlte Tätigkeit nicht mehr als kurzes Intermezzo vor Heirat und Familiengründung. Doch Vollzeit-Erwerbsarbeit für beide Geschlechter hat es zumindest in Westdeutschland nie gegeben. In der politischen Debatte ist dieser "Gender"-Konflikt erstaunlicherweise fast nie ein Thema.
Zur Lösung der Arbeitsmarktprobleme fallen den Meinungsführern stets die gleichen Rezepte ein. In der Krise des einst Bewährten propagieren sie schlicht das Bewährte als Antwort auf die Krise. Jetzt wird wieder in die Hände gespuckt, wir steigern das Bruttosozialpodukt! Der ehemalige NRW-Ministerpräsident Steinbrück hat seinen Beamten unbezahlte Überstunden verordnet, sein bayerischer Kollege Stoiber will alle Deutschen künftig zwei bis drei Wochenstunden länger arbeiten lassen. Die CDU-Vorsitzende Merkel möchte die kürzeren West-Arbeitszeiten den längeren Ost-Standards anpassen - bei gleichem Lohn, versteht sich. Wirtschaftsminister Clement denkt laut, und von seinen PR-Strategen gezielt vor "Brückentagen-Wochenenden" platziert, über die Streichung von Feiertagen nach. Kanzler Schröder schimpft im Stil seines Vorgängers Kohl ("Freizeitpark Deutschland") über "glückliche Arbeitslose". Am Kern des Problems gehen alle diese Äußerungen vorbei.
Die Strukturen am Arbeitsmarkt lassen, überspitzt formuliert, nur die Wahl zwischen Alles oder Nichts. Millionen Erwerbslose finden nichts schlimmer als die ihnen unbegrenzt zur Verfügung stehende freie Zeit; parallel klagen viele Arbeitnehmer über Zeitnot und Stress ohne Ende. Das Wirtschaftswachstum der letzten Jahrzehnte drückt sich in überflüssigen Arbeitskräften aus, nicht in Zeitwohlstand. Aber haben die Gewerkschaften nicht flächendeckende Arbeitszeitverkürzung durchgesetzt? Gehört Papi nicht samstags längst seinen Kindern - wenn er nicht gerade das Auto wäscht oder die Bundesliga verfolgt?
Betrachtet man statt der individuellen Arbeitszeit die von Paaren und Familien, kann von Entlastung keine Rede sein. Der Bremer Hochschullehrer Helmut Spitzley hat das auf einfache Weise vorgerechnet. Wenn 1960 "der Mann beispielsweise 44 Stunden pro Woche erwerbstätig war und die Frau ihre Leistungen auf Haushalt und Kinder konzentrierte, betrug die Erwerbstätigkeit von Mann und Frau zusammengenommen: 44 Wochenstunden". Eine Generation später sind die fürsorglichen Gattinen von einst ebenfalls berufstätig, überwiegend in Teilzeit. Die Arbeitszeit eines durchschnittlichen Paares betrage nun "38 + 20 = 58 Wochenstunden", addiert Spitzley. Sie liege damit trotz individueller Verkürzung "deutlich höher als in der Generation unserer Eltern".
Die in der Rückschau idealisierte "Vollbeschäftigung" der 60er-Jahre war eine Vollbeschäftigung für Männer, die darauf beruhte, dass Frauen zu Hause blieben. Heute muss das politische Ziel anders definiert werden. Appelle an die gute alte Zeit, die zur Mehrarbeit aufforden, sind dabei wenig hilfreich. Ein neuer Arbeitszeit-Standard kann nicht bei 38 oder gar über 40 Stunden liegen, sondern bestenfalls bei 30, eher bei 25 Wochenstunden. Erst wenn in späteren Jahren wegen des demografischen Wandels "tatsächlich wieder mehr Erwerbsarbeitsplätze angeboten würden als nachgefragt werden, wäre ein gesellschaftlicher Diskurs darüber sinnvoll, ob die Normalarbeitszeit länger sein könnte oder müsste", argumentiert Arbeitswissenschaftler Spitzley.
Die "kurze Vollzeit für alle" wäre keine starre Norm, sondern eine Art Durchschnittswert, der je nach persönlichen Wünschen, biografischer Situation und wirtschaftlichen Verhältnissen flexibel gewählt werden kann. Ein Umdenken bedeutet das auch für die Gewerkschaften, die bisher einförmige "Rasenmäher-Lösungen" bevorzugten. Nur unter dem Druck drohender Entlassungen stimmten sie in der Vergangenheit Verkürzungen mit Teillohnausgleich wie der (im Kern weiterhin gültigen) 28,8-Stunden-Woche bei VW zu. Der Familienlohn für den männlichen Ernährer spukt weiter durch die Tarifverhandlungen. Natürlich gibt es Menschen mit so niedrigem Verdienst, dass Wenigerarbeiten nicht in Frage kommt. Auch viele Alleinlebende und Alleinerziehende haben geringe Spielräume, auf Geld zu verzichten, weil sie sich nicht auf einen zweiten Verdiener stützen können.
Im Kern aber geht es um eine andere Verteilung - zwischen Arbeitslosen und Beschäftigten, zwischen Wenig- und Vielarbeitern, zwischen Männern und Frauen. Dass Väter sich mehr um ihre Kinder kümmern, Mütter genauso selbstverständlich einer bezahlten Tätigkeit nachgehen können - von diesem Ziel ist die deutsche Gesellschaft weit entfernt. Der Alleinverdiener, der den Haushalt samt Kindererziehung an seine nicht oder nur geringfügig erwerbstätige Partnerin delegiert hat, ist immer noch ein weit verbreitetes Arrangement. Wünsche, wie sie in Umfragen oder Untersuchungen geäußert werden, und faktisches Verhalten liegen weit auseinander.
Ein Schritt zur Gleichstellung der Geschlechter in diesem Sinne wären kürzere Arbeitszeiten für alle. Viele (vor allem männliche) Arbeitnehmer arbeiten deutlich länger als die tariflich vereinbarten 35, 37 oder 40 Stunden pro Woche. Solche Mehrarbeit muss nicht auch noch mit Zuschlägen belohnt werden. Man könnte sie auch stärker besteuern oder auf andere Weise unattraktiv machen: etwa, indem Überstunden verbindlich nur noch in Form von Freizeitausgleich verrechnet werden dürfen. Eine Aufgabe der Gewerkschaften würde sein, auch in den eigenen Reihen Solidarität sowohl im Geschlechterverhältnis als auch gegenüber Menschen ohne Erwerbsarbeit einzufordern.
Als die IG Metall vor 20 Jahren ihre Kampagne zur 35-Stunden-Woche startete, brachten vom Feminismus beeinflusste Gewerkschafterinnen die Idee des "Sechs-Stunden-Tages" ein. Sich durch geringere Arbeitszeiten spürbar vom beruflichen Druck zu entlasten, ist keine altmodische Forderung, wie Politiker und Verbandsfunktionäre immer wieder behaupten. Die Arbeitnehmer brauchen garantierte private Freiräume, und das jeden Tag - und keine Zeitmodelle, die auf "Schuften ohne Pause", jahrelangen 60-Stunden-Wochen und dann der verfrühten Rente mit 55 basieren. Die Arbeitsschützer sind sich darüber einig, dass Menschen maximal drei bis vier Stunden pro Tag Spitzenleistungen erbringen können. Was Unternehmensberater mit ihren "Lebensarbeitszeit-Konten" propagieren, führt in die falsche Richtung: Zeitwohlstand lässt sich nicht biografisch vertagen.
Alexandra Wagner vom Institut Arbeit und Technik in Gelsenkirchen schlägt ein "neues Normalarbeitsverhältnis" vor, das beiden Geschlechtern einen gleichberechtigten Zugang zum Erwerbsleben ermöglichen soll. Die wichtigsten Bestandteile eines solchen Pakets sind für die Wissenschaftlerin kürzere Arbeitszeiten, eine eigenständige soziale Sicherung für Frauen und die Ausdehnung der Versicherungspflicht auf Selbstständige und Beamte. Die neue Norm, so Wagner, bedeute "nicht Konformität, sondern muss vielmehr der Bezugspunkt für sich ausdifferenzierende Lebensformen sein".
Vor allem jüngere Menschen durchlaufen heute einen berufsbiografischen Zickzackkurs. Die alten, männlich geprägten Arbeitskonzepte einer "Vollzeit ohne Unterbrechung bis zur Rente" sind für sie Vergangenheit. An ihre Stelle tritt ein buntes Patchwork aus Teilzeitjobs, befristeter Beschäftigung, unbezahlten Praktika, erzwungenen Pausen durch Arbeitslosigkeit, aber auch freiwilligen Unterbrechungen der Berufsbiografie für Weiterbildung, Reisen oder Familienarbeit. Die Abweichler von der alten Norm benötigen "Flexicurity", wie das englische Kunstwort lautet: eine Mischung aus Beweglichkeit und Verlässlichkeit, die Brücken baut zwischen verschiedenartigen Arbeitsverhältnissen und unstete Erwerbsverläufe finanziell ausgleicht.
In diesem Sinne hat Sozialpolitik in einer sich wandelnden Arbeitsgesellschaft die Aufgabe, "Normalität" neu zu bestimmen: Sie sollte eine Kombination aus Flexibilität und Sicherheitsversprechen entwickeln, die individuelle Spielräume und Wahlfreiheiten zulässt, diese aber dennoch sozial flankiert.