Barzel weiß wovon er spricht. Der langjährige Parlamentarier war mehrfach unmittelbarer Zeuge als im Bundestag die Vertrauensfrage gestellt wurde. Das Grundgesetz (GG) sieht zwei Möglichkeiten vor, um eine Wahlperiode vorzeitig zu beenden: eine als "misslungen" anzusehende Wahl eines Kanzlers erst im dritten Wahlgang und die Vertrauensfrage. Die Kanzlerwahl regelt die Verfassung in Artikel 63. Erhält ein Kanzlerkandidat auch im dritten Wahlgang nicht die absolute Mehrheit des Parlaments, kann der Bundespräsident den Bundestag auflösen.
In den kommenden Wochen - spätestens am 1. Juli 2005 - wird es aber zum zweiten Fall kommen - der Vertrauensfrage. Diese ist in Artikel 68 geregelt: "Findet ein Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen, nicht die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages, so kann der Bundespräsident auf Vorschlag des Bundeskanzlers binnen einundzwanzig Tagen den Bundestag auflösen. Das Recht zur Auflösung erlischt, sobald der Bundestag mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen anderen Bundeskanzler wählt. Zwischen dem Antrage und der Abstimmung müssen achtundvierzig Stunden liegen." Danach muss der Bundestag gemäß Artikel 39 Grundgesetz innerhalb von 60 Tagen neu gewählt werden.
In der 56-jährigen Geschichte der Bundesrepublik haben bisher vier Kanzler die Vertrauensfrage gestellt. Als erster Regierungschef machte Bundeskanzler Willy Brandt am 20. September 1972 von dieser Möglichkeit in der erklärten Absicht Gebrauch, der Bundestag möge ihm das Misstrauen aussprechen. Der SPD-Politiker hatte kurz zuvor ein konstruktives Misstrauensvotum der Union mit dem Kanzlerkandidaten Barzel überstanden, aber nach einigen Partei- und Fraktionsübertritten im Parlament keine Mehrheit mehr. Brandt verlor mit 233 zu 248 Stimmen. SPD und FDP gewannen aber die nachfolgende Bundestagswahl am 19. November 1972 mit 45,8 beziehungsweise 8,4 Prozent der Zweitstimmen.
Zehn Jahre später, am 5. Februar 1982, stellte Brandts Amtsnachfolger Helmut Schmidt (SPD) die Vertrauensfrage, nachdem in der sozialliberalen Koalition erhebliche wirtschafts- und beschäftigungspolitische Differenzen aufgetreten waren. Schmidt erhielt mit 269 zu 224 Stimmen einen Vertrauensbeweis und wurde damit zunächst bestätigt. Noch im selben Jahr allerdings brach dieses Regierungsbündnis. Zur Ablösung Schmidts durch Helmut Kohl führte aber nicht die Vertrauensfrage. CDU/CSU und FDP machten stattdessen von dem Instrument des konstruktiven Misstrauensvotums Gebrauch (Artikel 67 GG): Sie schlugen den CDU-Politiker dem Parlament als Kanzlerkandidaten vor, den dieses am 1. Oktober 1982 denn auch mit 265 zu 235 Stimmen wählte.
Aber Kohl stellte am 17. Dezember die Vertrauensfrage in der erklärten Absicht, der Bundestag möge ihm das Misstrauen aussprechen. Kohl "verlor" mit 8 zu 218 Stimmen, weil 248 Unions- und FDP-Abgeordnete sich enthielten. Auf diese Weise wurden Neuwahlen herbeigeführt. Die neue Koalition aus CDU/CSU und FDP war sich sicher, dass sie die Bundestagswahl gewinnen würde und wollte sich so vom Volk legitimieren lassen. Das geschah bei der Wahl am 6. März 1983 auch. CDU/CSU und FDP erhielten 48,8 und 7,0 Prozent der Wählerstimmen.
Das Instrument der Vertrauensfrage hat Gerhard Schröder bereits am 16. November 2001 genutzt, um den Bundeswehreinsatz im Anti-Terror-Kampf durchzusetzen. Der Kanzler erhielt für die verknüpften Anträge 336 Stimmen und damit nur zwei mehr als die erforderliche Kanzlermehrheit. Der Koalitionspartner Bündnis 90/Die Grünen legte damals erst unmittelbar vor der Plenarsitzung das Abstimmungsverhalten fest. Vier der ursprünglich acht Gegner des Bundeswehreinsatzes schwenkten um und entschieden sich für ein positives Votum. Die 293 SPD-Abgeordneten unterstützten den Kanzler geschlossen.
In der Politik und Rechtswissenschaft höchst umstritten war die Vertrauensfrage des Kanzlers Kohl Ende 1982. Bei der Wende von der sozialliberalen Koalition hin zu einem schwarz-gelben Bündnis war von "Manipulation" und einer "Überdehnung der Verfassung" die Rede. Vier Abgeordnete klagten damals gegen die Parlamentsauflösung vor dem Bundesverfassungsgericht.
Auch dieses Mal könnte es wieder soweit kommen. Der Vize-Fraktionschef der Grünen, Christian Ströbele, sagte: "Ich gehe davon aus, dass einige Parlamentarier nach Karlsruhe gehen. Schließlich sind wir für vier Jahre gewählt und nicht für drei." Es gebe zu viele verfassungsrechtliche Komponenten, die in fragwürdiger Form von Kanzler Schröder übergangen würden. Der arbeits- und wirtschaftspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Klaus Brandner, äußerte: "Ich kann mir vorstellen, dass einzelne Abgeordnete diesen Weg wählen. Ich gehe aber davon aus, dass er nicht erfolgreich sein wird."
Das Bundesverfassungsgericht hatte im Februar 1983 mit Blick auf die Vertrauensfrage Kohls entschieden: "Der Bundeskanzler (…) soll dieses Verfahren nur anstrengen dürfen, wenn es politisch für ihn nicht mehr gewährleistet ist, mit den im Bundestag bestehenden Kräfteverhältnissen weiter zu regieren." Eine Auflösung des Bundestags mit Hilfe eines nicht echten Misstrauensvotums sei nur mit einer politischen Ausnahmesituation zu begründen. Die habe 1982/83 vorgelegen. Die Auflösung des Parlaments mit einer vom Kanzler gestellten Vertrauensfrage setze "eine politische Lage der Instabilität" voraus. Das höchste deutsche Gericht stellte aber auch klar: Besondere Schwierigkeiten der Aufgaben in einer laufenden Legislaturperiode oder die Forderung des Kanzlers nach Bestätigung seiner Legitimität rechtfertigten die Auflösung des Bundestags nicht. Es sei unzulässig, die Vertrauensfrage bei ausreichenden Mehrheiten zu stellen, nur um Neuwahlen einzuleiten. Die Entscheidung des Gerichts fiel sehr knapp aus. Drei Richter gaben Sondervoten ab.
Der damalige Bundespräsident Karl Carstens, selbst ein anerkannter Staatsrechtler, hatte sich seinerzeit schwer getan mit dem Votum des Bundestages und erst drei Wochen nach der Abstimmung den Bundestag aufgelöst und eine Neuwahl angesetzt. Es seien "die schwierigsten Wochen" seiner Amtszeit gewesen, bekannte er später. Eine ähnlich komplizierte Entscheidungsfindung kommt nun, 22 Jahre später, auf Bundespräsident Horst Köhler zu. Einstweilen gibt er sich noch bedeckt. Präsidialsprecher Martin Kothé erklärte auf Anfrage, Köhler habe sich noch keine Meinung gebildet, wie er auf den zu erwartenden Antrag auf Auflösung des Bundestages reagieren wird. "Der Bundespräsident wird eine sorgfältige Prüfung der Lage vornehmen, sobald dies nach den Umständen erforderlich wird."
Inzwischen hat sich aber eine Reihe von Verfassungsrechtlern zu Wort gemeldet, die die Zulässigkeit der angestrebten Vertrauensfrage unterschiedlich bewerteten. Skeptisch äußerte sich der Berliner Staatsrechtler Christian Pestalozza. "Ich sehe nicht, wie das vor dem Bundesverfassungsgericht durchkommen sollte." 1983 habe das Verfassungsgericht klargestellt, dass eine Auflösung des Bundestages nicht in Betracht komme, nur weil es gewissermaßen Schwierigkeiten im Land gebe. Im Bundesrat habe sich zudem nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen qualitativ nichts verändert. Die Regierung wolle sich nach den Einbrüchen bei den Landtagswahlen eine Legitimation auf Bundesebene holen. Das sei aber nicht der Fall, für den der Artikel 68 vorgesehen sei, betonte Pestalozza.
Der Münchner Verfassungsexperte Peter Huber hat dagegen weniger Bedenken. "Die Entscheidung ist zwar hart an der verfassungsrechtlichen Grenze, ist aber noch legal". Zwar dürfte der Bundeskanzler nach dem Grundgesetz die für eine vorgezogene Neuwahl erforderliche Vertrauensfrage nur stellen, wenn er die Mehrheit im Bundestag verliere. Das sei nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen nicht der Fall. "Es besteht jetzt jedoch ohne Zweifel eine politische Krise", sagte Huber. Denn es sei sehr zweifelhaft, ob die Regierung angesichts der Mehrheiten im Bundesrat bis zur turnusmäßigen Bundestagswahl 2006 weiter arbeiten könne. Aus Hubers Sicht gleicht die jetzige Lage der im Jahr 1983.
Für den früheren Verfassungsrichter Hans Hugo Klein stellt die Neuwahl verfassungsrechtlich kein großes Problem dar. Heikel wäre nur, wenn die SPD-Fraktion Schröder erst ihr Vertrauen verweigern und ihn die Partei dann sofort als Spitzenkandidaten küren würde. Andere Möglichkeiten, etwa eine Stimmenthaltung der Grünen, seien dagegen verfassungsrechtlich sauber - ebenso wie die Freigabe des Votums.
Eine Hand voll SPD-Abgeordneter sei mit diesem Bundeskanzler unzufrieden. "Wenn man es denen überlässt, reinen Herzens abzustimmen, wird kein Verfassungsgericht daran Anstoß nehmen", meinte Klein.
Längst haben bei SPD und Grünen Überlegungen eingesetzt, wie die Vertrauensfrage rechtlich glaubwürdig und ohne politische Beschädigung des Kanzlers gestellt werden kann. "Wie und in welcher Form er die Vertrauensfrage stellen wird, wird der Bundeskanzler zu gegebener Zeit selbst darstellen", betonte Regierungssprecher Béla Anda. Denn es wird spekuliert, dass Schröder die Vertrauensfrage wegen verfassungsrechtlicher Bedenken in Zusammenhang mit einem konkreten Antrag wie der Unternehmenssteuerreform entscheiden will. Gleichzeitig wies der Regierungssprecher darauf hin, dass Schröder bei den Reformen 25 Mal die Kanzlermehrheit im Bundestag erreicht habe. Dies sei "ein Zeichen für den Rückhalt, den der Bundeskanzler in der Fraktion genießt".
Erneut wird also die Schwierigkeit deutlich, verfassungsrechtliche Vorgaben und politische Erwägungen in Einklang zu bringen. Deshalb haben Staatsrechtler eine Grundgesetzänderung ins Gespräch gebracht, die dem Bundestag das Recht zur Selbstauflösung gäbe. Der Bonner Staatsrechtler Josef Isensee warnt vor einem "schmierigen Umweg" über die Vertrauensfrage und argumentiert, "wenn alle Parteien die Selbstauflösung des Bundestages wollen, wäre es gerader und ehrlicher, ein solches Recht zu schaffen". Zum Schutz kleinerer Parteien sei dafür eine hohe Hürde nötig, "wenigstens eine Dreiviertel-, eher noch eine Vierfünftelmehrheit" des Parlaments.
Ähnlicher Ansicht ist Isensees Kollege Hans-Peter Schneider aus Hannover: "Das ganze Verfahren hat den Geruch der Manipulation und schadet der Demokratie." Der Weg zu einer Neuwahl über die Vertrauensfrage sei nicht risikofrei. Stattdessen sollten sich die Parteien sehr schnell auf eine Verfassungsänderung verständigen und dem Bundestag das Recht einräumen, sich mit Zweidrittelmehrheit selbst aufzulösen. Der Bundespräsident würde dann auch nicht mehr in Verlegenheit gebracht wie seinerzeit Carstens.
Dieser hatte 1983 darauf hingewiesen, dass die Fraktionen eine Änderung des Grundgesetzes erwogen, letztlich aber verworfen hätten. Bis in die Gegenwart wird an die Weimarer Reichsverfassung erinnert, die dem Reichspräsidenten ein nahezu unbegrenztes Recht zur Auflösung des Parlaments eingeräumt hatte. Einer Vertrauensfrage oder einem entsprechenden Antrag des Kanzlers bedurfte es nicht. Die Folge war, dass zwischen 1919 und 1933 kein Reichstag über die volle Wahlperiode amtiert hat. Der Parlamentarische Rat, der das Grundgesetz 1948/49 beraten hat, wollte deshalb die Auflösung des Bundestages auf ganz wenige Fälle beschränken. Nach Schneiders Auffassung hat sich die Bundesrepublik seitdem als stabiler und demokratischer Rechtsstaat bewährt; ein Selbstauflösungsrecht des Bundestages sei damit vertretbar.
Die Möglichkeit einer Verfassungsänderung wird von Koalitions- und Oppositionspolitikern kaum thematisiert. Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) erklärte, der Kanzler könne "deutlich besser" begründen, dass er für seine Politik keine Mehrheit mehr hat, als Kohl 1982/83. Dieser habe damals über eine "satte Mehrheit" verfügt, gleichwohl habe das Bundesverfassungsgericht seinen Schritt gebilligt.
SPD-Partei- und Fraktionschef Franz Müntefering gab sich zurückhaltend. "Das ist nicht meine Sache, darauf eine Antwort zu geben." Politiker von CDU/CSU und FDP halten sich ebenfalls bedeckt, verweisen darauf, dass die Vertrauensfrage Sache des Kanzlers und der Koalition insgesamt sei. Der ehemalige Bundespräsident Scheel vertrat die Ansicht, dass Staatsoberhaupt Horst Köhler der vorgezogenen Neuwahl trotz verfassungsrechtlicher Bedenken zustimmen werde. Im Vergleich zu der 1982 von Helmut Kohl durchgesetzten Vertrauensfrage sei die Situation heute nicht so schwierig. Denn alle Seiten seien gegenwärtig der Meinung, dass Neuwahlen die richtige Lösung seien.
Bundespräsident Köhler rückt somit schon bald ins Zentrum der Politik. Der Kandidat, der vor einem Jahr von Union und FDP gewählt wurde und sich bereits dem Vorwurf fehlender parteipolitischer Neutralität ausgesetzt sah, muss entscheiden, ob der Bundestag neu gewählt werden soll oder nicht. Stellt Gerhard Schröder, wie allgemein erwartet wird, die Vertrauensfrage am 1. Juli, hat Köhler 21 Tage Zeit für seine Entscheidung, also bis zum 22. Juli. Spätestens nach 60 Tagen müsste dann neu gewählt werden. Damit würde der 18. September als Wahltermin immer wahrscheinlicher, da dann die Sommerferien in allen 16 Bundesländern beendet sind. Bis zum Zusammentritt eines neuen Bundestages bliebe die Regierung Schröder/Fischer geschäftsführend im Amt.