Wie viele Menschen tatsächlich an jenen Maitagen in Andidschan ihr Leben lassen mussten, wird die Weltöffentlichkeit vielleicht nie erfahren. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen liegt sie zwischen 500 und 1.000. Dieser großzügige Rahmen lässt erahnen, wie spekulativ die Schätzungen tatsächlich sind. Die usbekische Regierung unter ihrem Präsidenten Islam Karimow spricht von 173 Todesopfern, darunter vielen regierungstreuen Soldaten. Wer selbst über so genaue Informationen verfügt, scheint es nicht nötig zu haben, ausländischen Journalisten und Beobachtern während der Unruhen die Berichterstattung zu erlauben. Wie sonst erklärt sich die Ausweisung aller Ausländer aus der Region Andidschan kurz nach Ausbruch der Gewalt? Die usbekische Regierung dementiert, die Sorge um das Wohl der Nicht-Usbeken sei zu groß gewesen, für ihre Sicherheit habe man nicht garantieren können.
Auch die Hintergründe der Unruhen verschließen sich bislang objektiver Aufklärung. Die einzigen Fakten hierzu betreffen ihren Auslöser: 23 Geschäftsleute aus Andidschan standen vor Gericht. Sie waren im Juni 2004 verhaftet worden, weil ihnen die Zugehörigkeit zu der islamistischen Organisation Akramiya, einer Abspaltung der weltweit agierenden Hizb ut-Tahrir, zur Last gelegt wurde. Freiheitsstrafen und Geldbußen, Geschäftsaufgabe und ein jähes Ende ihrer wirtschaftlichen Existenz drohten in einem Prozess, der im Februar dieses Jahres begann.
Gegen die Inhaftierung und den Prozess regte sich Widerstand, zunächst bei den Betroffenen und ihren Angehörigen, schließlich auch bei anderen Bürgern: Es handele sich um einen in Karimow-Usbekistan beliebten Pauschalvorwurf, die Angeklagten seien aber keine Islamisten. Vielmehr gehe es um Macht und Einfluss. Die grauen Eminenzen Andidschans duldeten keine Konkurrenz.
Neben diesen Protesten kam es zur Erstürmung eines Gefängnisses und der Freilassung der Insassen, darunter auch der inhaftierten Geschäftsleute - mit Waffengewalt. Bewaffnete hatten bereits einige Tage zuvor einen Militärposten überfallen und dabei wertvolle Beute gemacht, mit der sich die Gefängniserstürmung durchführen ließ. Im weiteren Verlauf des Tages stürmte eine aufgebrachte Menschenmenge das "Hokimyat" (Regionalverwaltung) von Andidschan, wobei Mitarbeiter zeitweise als Geiseln genommen wurden.
Seit Mitte der 90er-Jahre nutzt Präsident Karimow die "Islamismus-Keule" zunehmend, um politische Gegner gleich welcher Couleur auszuschalten. Dabei argumentiert er mit diversen Anschlägen in Usbekistan, wovon einer im Jahre 1999 ihm selbst gegolten habe. Der 11. September, dessen politische Folgen Karimow einen Status als Verbündeter der USA einbrachte, bescherte seinem mit allen Mitteln verfochtenen Anti-Islamismus internationale Salonfähigkeit. Den weltweiten Kampf gegen den Terror interpretierte er bescheiden als nachträgliche Bestätigung seines eigenen politischen Vorgehens, die Koalition mit den USA erwies sich für ihn in dieser Hinsicht als Ritterschlag.
Trotz der Instrumentalisierung des islamischen Fundamentalismus durch Karimow darf der Islamismus in Usbekistan nicht unterschätzt werden. Das gilt insbesondere für die östlichen Gebiete des Landes, speziell für das Fergana-Tal, in dem auch Andidschan liegt. Islamistischen Rattenfängern gelang es, in Zeiten beispiellosen wirtschaftlichen und ideellen Niedergangs durch soziale und schulische Angebote Anhänger zu werben. Zahlreiche neue Moscheen wurden errichtet, der Islam erlebte nach 70-jähriger Unterdrückung durch die Sowjets eine Renaissance. Sowohl im afghanischen als auch im tadschikischen Bürgerkrieg kämpften usbekische Mudschaheddin-Söldner. Finanziert aus dem Ausland, insbesondere aus Saudi-Arabien und der Türkei, verfügten die usbekischen Islamisten bald nicht nur über ein globales Netzwerk aus "Dschihad-Zeiten" in Afghanistan und Tadschikistan, sondern auch über bereitwillige Sponsoren.
Vergleichbare Finanzquellen und Auslandskontakte besitzen andere Gegner des "Systems Karimow" nicht - und auch nicht die Öffentlichkeit, die den islamischen Fundamentalisten durch Karimows ritualisierte Feind-Erklärungen zuteil wird. In einer nun etwa 15 Jahre währenden Repressionsgeschichte politischer Gegner in Usbekistan sind die Islamisten als einzig ernstzunehmende Opposition übriggeblieben. Demokratische Opponenten konnte Karimow durch die Bank kaltstellen: Er ließ sie verfolgen und inhaftieren, oder sie suchten freiwillig das Weite im Exil. Ob Birlik oder Erk, die einst organisierte politische Opposition im Lande ist vollkommen zerschlagen. Um das politische Theater im "Oliy Maschlis", dem Parlament, zu inszenieren, ließ Karimow vier große Parteien neben seiner eigenen zu. Man kennt sich gut, Politik verbindet. Die legale Neugründung von Parteien wurde mithilfe eines neuen Parteiengesetzes so sehr erschwert, dass sie unter den gegenwärtigen Bedingungen unmöglich ist: 50.000 Unterstützerunterschriften und Basisgruppen in allen zwölf usbekischen "Viyolaten" (Provinzen) und in der Hauptstadt Taschkent bilden die materiellen Voraussetzungen. In der Praxis kommen etliche weitere Hürden hinzu. Dies treibt auch weniger fundamentalistisch eingestellte Karimow-Gegner in die Reihen der Islamisten.
Wahrscheinlich waren es Islamisten, die den Überfall auf den Militärposten und die Erstürmung des Gefängnisses verübten. Zumindest verfügen islamistische Gruppen über das entsprechende Know-How sowie die organisatorischen und personellen Voraussetzungen. Vermutlich liefen in Andidschan zwei unabhängige Entwicklungen zusammen: Die keineswegs islamistisch motivierten Proteste gegen den Prozess und die Gefängniserstürmung durch Islamisten. Beides zusammen mündete in die Besetzung des "Hokimyats". Es könnte sein, dass Islamisten die aufgeheizte Stimmung und die bereits bestehende Unruhe bewusst nutzten, um selbst aktiv zu werden. Auszuschließen ist nicht, dass sich Anhänger der Proteste dem Gefängnissturm anschlossen oder die Islamisten sich unter die Protestierenden mischten, wenn auch nicht im Namen Allahs, das ist Tatsache. Unabhängige Beobachter jedenfalls berichten, bevor sie der Stadt verwiesen wurden, übereinstimmend von genuin demokratischen und friedlich vorgetragenen Forderungen, darunter nach dem Rücktritt des Präsidenten. Dieser ließ es sich, nach offiziellen Angaben, zeitnah nach Ausbruch der Unruhen nicht nehmen, selbst ins Krisengebiet zu reisen, um mit den "Aufständischen" zu verhandeln.
Republikflucht, wie von Amtskollege Askar Akajew in Kirgistan präjudiziert, stand für Karimow ebenso wenig zur Debatte wie die Preisgabe seiner Macht. Zweites machte er zur Prämisse. So wurde er nicht in persona in Andidschan gesichtet, an seiner Stelle aber seine Truppen. Einen Schießbefehl will er selbst nicht erteilt haben. Für die Opfer besteht darin kein Unterschied. "Aufständische", "Kriminelle", "Islamisten" macht er verantwortlich für das Blutbad von Andidschan. Die Regierungstruppen, bemüht, mit ihren Panzern nach dem Rechten zu sehen, seien angegriffen worden. Blutig niedergeschlagen wurde übrigens nicht die Erstürmung des Gefängnisses, nicht die Besetzung der Regionalverwaltung, sondern eine Protestversammlung in Andidschan.
Untersuchungen von ausländischer Seite werden kategorisch abgelehnt, ganz gleich, ob von Staaten, Staatenzusammenschlüssen oder Menschenrechtsorganisationen gefordert. Über einen wohl dramaturgisierten Kurzbesuch einiger gesonnener Beobachter samt linientreuem Kamerateam in ausgewählten Straßenzügen der hastig aufgeräumten Stadt ist die Krisendiplomatie bislang nicht hinausgekommen. Auf alte Bünde ist Verlass, Russland unter Präsident Wladimir Putin pflichtet den usbekischen Brüdern bei. Außenminister Sergej Lawrow übernimmt kritiklos die Karimowsche Rhetorik bei der Beurteilung der Ereignisse.
Auch die neuen Freunde jenseits des Atlantiks zeigen Verständnis - wenn auch weniger, zumindest fürs Protokoll. Beunruhigt zeigen sie sich, tief beunruhigt. Eine Untersuchung der Umstände würden sie begrüßen, so zumindest die erste Reaktion des Weißen Hauses. Wenige Tage später setzen die USA eine usbekische Islamistenorganisation auf die "Terror-Liste". Es folgt eine Aufforderung an alle amerikanischen Staatsbürger, Usbekistan umgehend zu verlassen, aus Angst vor Anschlägen von Islamisten.
Usbekistan im Herzen Zentralasiens ist von großer geopolitischer Bedeutung - auch für die USA. Im Südosten des Landes unterhält Washington den Luftwaffenstützpunkt Karschi-Khanabad unweit der afghanischen Grenze. Um diesen nicht zu verlieren, schlagen sich die Vereinigten Staaten nun auf die usbekisch-russische Seite. Inzwischen dementierte ein Sprecher des Weißen Hauses zumindest Presseberichte, nach denen die USA eine Forderung der NATO nach einer internationalen Kommission in Andidschan verhindert habe. Die von Präsident Karimow eingesetzte Untersuchungskommission, der 16 Mitglieder des usbekischen Parlaments angehören, wird aber wohl trotzdem keine internationale Konkurrenz zu befürchten haben - zumindest nicht im eigenen Land.
In Kirgistan trafen indes Vertreter der Vereinten Nationen ein, um die Unruhen im Osten des Nachbarlandes aufzuklären. Doch ihnen sind die Hände gebunden: Sie erhalten von der usbekischen Regierung keine Erlaubnis, an den Ort des Geschehens zu reisen. Die scheinbar einzige Möglichkeit, die ihnen bleibt, um Licht ins Dunkel des 13. Mai zu bringen liegt darin, usbekische Flüchtlinge aus Andidschan in Kirgisien nach den Ereignissen zu befragen. Eine umfassende und gründliche Aufklärung bleibt unter diesen Bedingungen ausgeschlossen.
Bislang überwiegt die Verklärung der Unruhen von Andidschan. Die usbekische Regierung besitzt kein Interesse an einer Aufklärung. Russland und die USA, in ein wiederaufgelegtes "Great Game" verstrickt, buhlen um die Gunst von Präsident Karimow. Macht und Einfluss in der zentralasiatischen Region erhalten den Zuschlag vor der Durchsetzung von Demokratie und Menschenrechten. Beide Staaten unterscheiden sich lediglich in der Rhetorik. Während Moskau den usbekischen Sprachgebrauch adaptiert und sich hinter Taschkent stellt, behält Washington seinen eigenen bei und gibt sich distanziert. Staatenzusammenschlüsse scheitern mit ihren Vorstößen zur Untersuchung. Die Vereinten Nationen können in Kirgistan keine Aufklärung der Ereignisse in Usbekistan leisten. Die Flüchtlingsbefragung könnte eher zur Verklärung als zur Aufklärung beitragen. Voraussetzung einer erfolgreichen Untersuchung ist die Erlaubnis der usbekischen Regierung, eine internationale Aufklärungskommission zuzulassen. Ohne internationalen Druck ist eine solche Wende jedoch nicht zu erwarten.