Die Zeit war nicht verloren, weil wir Erfahrungen gemacht haben, die uns bis heute helfen, mit der Zeit fertig zu werden. Alle Zeiten, in denen wir einstehen müssen für unseren Glauben, sind keine verlorenen Zeiten. Im Gegenteil." So ordnet Albrecht Schönherr, ehemals Bischof in Berlin-Brandenburg und Vorsitzender der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen in der DDR, im vorliegenden Buch das Kapitel "Kirche in der DDR" ein. Es ist heute Vergangenheit, doch für viele, die es hautnah miterlebt haben, ist es noch ganz nah.
Menschen, die nicht im Osten Deutschlands zu Hause waren, wissen allerdings wenig über diese Zeit, und Jüngere, ganz gleich wo ihre Heimat ist, schon gar nicht. Der vorliegende Band kann eine Lücke schließen. Wie war das damals in der DDR? Wie lebten Christen in diesem ideologischen System, das grundsätzlich jede Religion ablehnte? Wie standen die Kirchen zur Führung des atheistischen Staates?
Was das Buch einzigartig macht, sind die glaubhaften Berichte namhafter Zeitzeugen wie Albrecht Schönherr, Johannes Hempel, Axel Noack, Werner Krusche, Leo Nowak, Heino Falcke, Klaus Peter Hertzsch, die Verantwortung für den Weg der Kirchen in der DDR getragen haben. Sie lassen Geschichte lebendig werden, sie zeigen, wie gläubige und glaubwürdige Menschen um den angemessenen, evangeliumsgemäßen Weg für die Kirchen in der DDR gerungen haben. Hinzu kommt der "Blick von außen" von Persönlichkeiten wie Richard von Weizsäcker oder Konrad Raiser, die als Beobachter oder als kirchliche Verhandlungs- und Gesprächspartner diese Zeit miterlebt haben.
Der Herausgeber knüpft an die gleichnamige dreiteilige "Abendreihe" beim Ökumenischen Kirchentag 2003 in Berlin an, in der diese Zeitzeugen von ihrem Christsein in der DDR berichteten. Höppner, Mathematiker, von 1980 bis 1994 Präses der Synode der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen und von 1994 bis 2002 Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, hat die Berichte ausgewählt, zusammengetragen, geordnet, zu einigen Themen wie dem Staat-Kirche-Gespräch am 6. März 1978 zusätzlich Personen befragt und die Überleitungstexte geschrieben.
Damit werden die Kirchen in der DDR von einer anderen Seite beleuchtet als in manchen Veröffentlichungen nach der Wende, die Autoren verfasst haben, die nicht dabei waren und die manchmal noch nicht einmal die Betroffenen befragt haben. Noch einmal wird die ungeheuer spannende Zeit der Ökumenischen Versammlung, Teil des Konziliaren Prozesses für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung, lebendig, die dann die Herbstrevolution 1989 eingeleitet hat. Die Kirche und die Friedensfrage sowie Kirche und Staatssicherheit sind weitere spannungsvolle Themen, aber auch der Angriff auf die Junge Gemeinde 1952/53, die Fragen um Christenlehre, Konfirmation und Jugendweihe, der Wehrdienst und seine Verweigerung, die Rolle der Kirchentage, die ökumenische Zusammenarbeit. Über kleine und große Auseinandersetzungen berichten die Befragten, über die Bemühungen, im Sozialismus Kirche Jesu Christi zu bleiben. Daneben werden auch innerkirchliche Aus- einandersetzungen beleuchtet oder die Auswirkungen engagierten Christ-Seins auf die Familien, auf Alltag und Berufswelt.
Es geht nicht darum, diese Zeiten zu glorifizieren - im Gegenteil, auch Fehler werden benannt und manches kritisch hinterfragt: "Jede Kirchenleitung muss sich der Frage stellen, ob sie nicht zu oft den Kompromiss gesucht hat und dabei auch zum Werkzeug staatlicher Interessen geworden ist", so Axel Noack, heute Bischof der Kirchenprovinz Sachsen.
Konflikte entwickelten sich, als immer mehr gesellschaftspolitisch engagierte Gruppen in der Kirche ein Dach für ihre Aktivitäten suchten. Die Kirche hatte sich Freiräume erkämpft, die sonst keiner anderen Organisation zugestanden wurden. Sie stand zwischen den Gruppen und den staatlichen Stellen, die ihrerseits über die Kirche auf die Gruppen Einfluss nehmen wollten.
Über komplizierte Einzelheiten wie etwa bei der Selbstverbrennung des Pfarrers Oskar Brüsewitz 1976, bei denen die Kirchen eine Gratwanderung absolvierten, erfährt selbst der damalige DDR-Bürger erst aus diesem Buch, denn die Informationspolitik zu DDR-Zeiten ließ kaum etwas durchsickern, und die Staatssicherheit arbeitete auf Hochtouren. So sind viele Kapitel auch für diejenigen, die dabei waren, oftmals spannend zu lesen.
Dieses Buch ist wichtig, damit diese Zeiten nicht in Ostalgie oder Vergessen untergehen, damit Menschen sich mit ihnen auseinandersetzen, Zusammenhänge verstehen und aus ihnen lernen. Höppner erhebt nicht den Anspruch, hinreichend objektiv zu sein für eine historische Wertung. Aber wenn der Band Neugier weckt, zum Nachfragen ermuntert und zur weiteren Auseinandersetzung führt, dann hat er einen guten Zweck erfüllt.
Reinhard Höppner (Hrsg.)
Bleiben, wohin uns Gott gestellt hat.
Zeitzeugen berichten über die Kirche in der DDR
Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2004; 256 S., 12,80 Euro