Demokratie braucht mehr als eine Institutionenordnung, mehr auch als demokratisch gesinnte Eliten, die diese Ordnung ausfüllen. Zivilgesellschaft und Zusammengehörigkeitsgefühl sind die sozialen Faktoren, derer es bedarf, um ein politisches System - auch jenseits seiner Institutionen und Eliten - fest zu verankern. Die Bedeutung dieser Faktoren lässt sich an den gegenwärtigen Schwierigkeiten europäischer Verfassungsgebung ebenso ablesen wie an mancherlei Fehlentwicklungen in den etablierten westlichen Demokratien.
Für den postkommunistischen Transformationsprozess weist Jerzy Macków im neuen Heft der "Zeitschrift für Parlamentsfragen" nach, dass an nationalen Interessen (und Rechtstaatlichkeit) orientierte Eliten oder national-demokratische Bewegungen anfangs durchaus zivilgesellschaftliche Defizite zu kompensieren vermochten. Nur in Tschechien sieht er die Demokratisierung als abgeschlossen. Die Ukraine habe gute Chancen, den posttotalitären Autoritarismus zu überwinden; Belarus hingegen fehle es an demokratischen Eliten wie an genügend starken national-demokratischen Kräften, um die zur Zeit stattfindende Re-Totalitarisierung abzuwenden. Wie Axel Reetz dokumentiert, ist die Prognose auch für das Baltikum keineswegs so günstig. Die vierten freien Parlamentswahlen in Estland, Lettland sowie Litauen zeigen, dass die Entwicklungen dieser Länder trotz ähnlicher Voraussetzungen recht unterschiedlich verlaufen.
In welchem Maße auch westliche Demokratien von Unwägbarkeiten und Widersprüchen gekennzeichnet sein können, belegen Jörg Broschek und Rainer-Olaf Schultze in ihrer Analyse der kanadischen Unterhauswahl 2004. Die Liberalen verloren dort zwar die Mandatsmehrheit, nicht aber die Regierungsführung. Dass der zu erwartende häufigere Wechsel zwischen Phasen von Mehrheits- und Minderheitsregierungen in Kanada keineswegs gleichbedeutend mit Instabilität oder mangelnder politischer Handlungsfähigkeit ist, beweisen ähnliche Konstellationen in der Vergangenheit.
Entschieden skeptischer schätzen Peter Filzmaier und Fritz Plasser die Reformfähigkeit in den USA ein. Dort registrieren die Autoren ein "zunehmend erstarrtes und finanziell unkontrollierbares System". 98,3 Prozent der kandidierenden Amtsinhaber im Repräsentantenhaus und 96,2 Prozent im Senat wurden wiedergewählt. Hinzu kommen erhebliche Wettbewerbsverzerrungen, weil die kostenintensiven Wahlkämpfe und der Stil politischer Kommunikation hohe Kapitalausstattung der Kandidaten verlangt.
Steht also den demokratischen Fortschritten in Mittel- und Osteuropa eine Entwicklung zu Wahlen, "die keine mehr sind", in den USA entgegen? Dem verbreiteten Eindruck tiefer politischer Spaltung in den Vereinigten Staaten widerspricht Michael Kolkmann mit Daten aus der Präsidentschaftswahl. George W. Bush hat in traditionell der Demokratischen Partei zuneigenden Gruppen überdurchschnittlich hinzugewonnen, und innerhalb der einzelnen Staaten verteilten sich die politischen Präferenzen häufig ganz uneinheitlich bei den Wahlgängen zum Präsidentenamt, zum Kongress und zu den Gouverneursposten.
Zweifelsfrei eingeleitet - und in einem ersten Schritt institutionalisiert - ist hingegen die wachsende politische Polarisierung in der Schweiz. Burkard Steppacher zeigt, wie nach den Wahlen 2003 auf Druck der zur stärksten Kraft avancierten national-konservativen SVP die "Zauberformel" geändert werden musste, nach der seit 1959 die Bundesregierung gemäß Parteienproporz zusammengesetzt wird.
Wie unter den Bedingungen kompetitiver Westminster-Demokratie und medienbestimmter Kommunikation politische Macht erhalten werden kann, hat in Großbritannien Tony Blair mit seinem dritten Wahlsieg erneut bewiesen. Bernd-Werner Becker identifiziert als Garanten dieses Erfolgs Zentrierung und Informalisierung der Entscheidungsstrukturen sowie Professionalisierung der Kommunikation.
Kai-Uwe Schnapp und Philipp Harfst ermitteln mit empirisch-quantitativem Vorgehen Ressourcen von 22 Parlamenten, sich Informationen zu beschaffen und die Regierung zu kontrollieren. Die über die parlamentarische Ebene hinausreichende Bandbreite politischer Kontrolle nimmt Ludger Helms in den Blick. Für die fünf größten westeuropäischen Demokratien konstatiert er Stärkungen der Regierungskontrolle durch Wahlen sowie Verfassungsgerichte und insbesondere gewachsene Einflusspotenziale aufseiten privater Großfirmen und Massenmedien, während die parlamentarische Kontrolle mehrfach leicht geschwächt erscheint.
Die Besprechung parlamentsrechtlich relevanter Judikatur deutscher Gerichte wird von Florian Edinger und Siegfried Jutzi fortgesetzt, ebenso wie die jährliche Dokumentation der zahlenmäßigen Entwicklung, regionalen Verteilung und sozialstrukturellen Zusammensetzung der Parteimitgliedschaften von Oskar Niedermayer.
Die "Zeitschrift für Parlamentsfragen" erscheint beim
VS-Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbanden. Das soeben
erschienene Heft 2 des 36. Jahrgangs kostet als Einzelheft 13,50
Euro.