Neue Fächer, ein eigener Etat, eine anders gelebte Lehrerrolle und pädagogische Teamarbeit sind nur einige von vielen neuen Schritten zur Schule der Zukunft. Die pädagogische und organisatorische Neuorientierung fordert Schulleitung, Pädagogen und Schüler gleichermaßen heraus.
Der März ist neuerdings ein besonderer Monat: Verfassungstag an der Bertolt-Brecht Gesamtschule (BBGS) in Bonn. Einmal im Jahr wird die Schulverfassung offiziell gefeiert. Eine gemeinsame Luftballonaktion und eine kleine Feierstunde in der Aula stehen an. Nichts Festliches, eher etwas Spielerisches, das auch für Zusammenhalt steht. In diesem Jahr steigen Hunderte Luftballone - gespendet vom Partnerunternehmen Deutsche Post AG - über dem Schulsportplatz in die Lüfte. "Schick mich zurück!" steht bei vielen auf der angehängten Postkarte mit der abgedruckten Schulverfassung und der Adresse der Schule. Den Rücksendern winkt ein kleiner Preis.
Erst Anfang 2003 trat die von Lehrern und der Schülervertretung (SV) erarbeitete Schulverfassung in Kraft. Schüler und Eltern haben sie unterschrieben und stehen damit in der Pflicht, das Idealbild zum Miteinander, zum Lehren und Lernen und zur Verantwortung der Eltern gelebte Wirklichkeit werden zu lassen.
Beim Eingang von Station Nummer zwei, der Aula, knubbelt es sich heftig. Rund 1.000 Schüler suchen ihre Plätze. Sie sind aufgedreht. Schulleiter Ulrich Stahnke nutzt die Vollversammlung, um erneut die Philosophie, die das Lernklima am Lernort bestimmen soll, anzusprechen: "Wir stehen am Anfang einer Tradition. Die Schulverfassungsfeier ist als Erinnerungstag gedacht, um zu überlegen und darüber nachzudenken, wie wir alle miteinander lernen und miteinander leben wollen."
Das Soziale steht an der Bertolt-Brecht-Gesamtschule ganz oben. "Wenn das nicht stimmt, funktioniert auch der Fachunterricht nicht", sagt Ursula Dreeser, didaktische Leiterin der BBGS, im Gespräch mit "Das Parlament". Die Powerfrau mit Vorwärtsdrang kann Lehrer wie Schüler motivieren: "Schüler sollen an der BBGS keine Schülerrolle spielen, sie sollen sie leben, ausfüllen und bewusst verantworten." Den Rechercherundgang mit der Journalistin hat Dreeser gerne zwei Schülern überlassen. Thomas Kraus (16), Schulsprecher und Mitglied in der Steuergruppe, und Philip Peusmann (16), Klassensprecher der 10.5., macht es richtig Spaß, "ihre Schule" vorzustellen: Neue Räume für die Naturwissenschaften mit TV und Speziallabor, wo Schüler jetzt wirklich selber experimentieren können; toll ausgestattete Werkräume, die Aula mit der neuen Beleuchtungsanlage und natürlich die gerade eingerichtete Schulbibliothek mit Internetanschlüssen, in der ein Selbstlernzentrum aufgebaut wird.
Durch die Neuausrichtung jonglieren alle mit ungewohnten Vokabeln: Steuergruppe, Teamschule, Unterrichtsentwicklung, Transparenz und alles unter dem Oberbegriff mehr Autonomie. In der Steuergruppe sitzen Schüler wie Thomas Kraus, Lehrer und Eltern, um den Schulentwicklungsprozess als Ganzes im Blick zu haben. Teamschule meint nicht nur, dass Lehrer sich als Teil eines Teams verstehen und sich vom Einzelkämpfertum verabschieden müssen, sondern dass sie ebenso die Klasse als Team fördern und unterstützen sollen. Die Klassenlehrer eines Jahrgangs bilden Jahrgangsteams. Alle Kollegen und Kolleginnen sind einer Jahrgangsstufe zugeordnet und unterrichten dort auch den größten Teil ihrer Stunden. So ist es beispielsweise möglich, Arbeitsblätter auszutauschen oder sich bei Klassenfahrten besser abzustimmen.
Neu implementiert wurde die Unterrichtsentwicklung auf Teamebene, die für alle Lehrer verbindlich ist. Sie wird über zwei Jahre verteilt in vier Modulen realisiert, eingeteilt in die Abschnitte Methoden, Kommunikation, Teamentwicklung und eigenverantwortliches Arbeiten. "Neu ist, dass alle im Lehrerkollegium das Gleiche lernen. Lehrer haben sich einzeln immer fortgebildet. Doch erst durch die Teamfortbildungen wird das Gelernte auch wirklich in die Schule zurückgetragen", verdeutlicht Dreeser. Arbeitsteilige Unterrichtsvorbereitung als ein Ziel der Maßnahme sei "eine hart zu knackende Nuss". So etwas vermittelt die stark in die Kritik geratene Lehrerausbildung in Deutschland in der Regel nicht. Weitere schulinterne Fortbildungen kommen hinzu, zum Beispiel zum Evaluationsberater oder zur Leistungsbewertung. Diese Evaluationsberater sollen die Schule zu bestimmten Projekten in die Lage versetzen, Kataloge und Kriterien zu entwickeln, an denen man den Erfolg der Arbeit überprüfen kann. Bei allen Schulungen muss sichergestellt sein, dass das Erlernte nachhaltig wirkt. Um es in den Unterricht zu tragen, bleibt etwa ein halbes Jahr Zeit.
Ein ganz junger Pädagoge im Team ist Carsten Kroppach, einer der beiden Klassenlehrer der 6.4. Es ist kurz vor acht Uhr. Die Klassenräume sind längst aufgeschlossen. Das Warten vor verschlossenen Türen bis zum ersten Gong hat die BBGS längst abgeschafft. "Offener Anfang" heißt das. Gemeint ist, dass alle Schüler erst einmal "ankommen" sollen. Gegen 8.15 Uhr hebt Carsten Kroppach die flache Hand auf Augenhöhe. Die Schüler machen es ihm nach und der Lärmpegel im Raum reduziert sich zusehens. Die gehobene, flache Hand ist das Ruhezeichen, auf das sich alle verständigt haben. Methodenwechsel im Unterricht heißt: Die Schüler sitzen immer zu sechst an Tischgruppen, Jungen und Mädchen gemischt und keineswegs immer zusammen mit der Freundin oder dem Freund. Die Schulung von Teamwork ist das A und O. Die Kinder sollen eine offene, konstruktive Zusammenarbeit lernen.
Die veränderte Rolle des Lehrers, Lernpartner und Lernberater zu sein, ist unübersehbar. Der junge Pädagoge geht von Tisch zu Tisch, ist nicht Frontmann, sondern mittendrin, eben einer von ihnen. Er muss über ein umfassendes Methodenrepertoire verfügen, um die Lernprozesse für Schüler unterschiedlicher Leistungsstärke abwechslungsreich und anspruchsvoll zu gestalten. Unterrichtsentwicklung bedeutet an der BBGS auch, dass neue Fächer wie Ökologie oder Offenes Lernen im Stundenplan stehen.
Es gibt unzählige Schritte, durch die die BBGS verändert wird. Alles steht und fällt mit dem Etat und dem Personal. Durch die "Kapitalisierung" von Lehrerstellen, das .heißt, durch die Möglichkeit, dass die Schule unbesetzte Stellen nicht nachbesetzt und dafür das Geld erhält und ihren speziellen Bedürfnissen entsprechend einsetzt, zum Beispiel jemanden beschäftigt, der mit den Kindern über Mittag arbeitet, aber kein Lehrer sein muss, entstehen Gestaltungsräume. Die BBGS verfügt über einen Etat in Höhe von etwa 25.000 Euro.
Die Losung für das Team von Stahnke, mit gut 42 Jahren Durchschnittsalter ein relativ junges Kollegium, lautet: "Wir müssen alle einen ähnlichen Blick auf Schule haben." Der Satz hört sich zwar selbstverständlich an, ist es für Schule aber nicht. Er meint damit auch, dass Schule eine Leitidee braucht, die Lehrer, Schüler und auch Eltern gemeinsam im Blick haben. "Ohne eine gemeinsame Leitidee funktioniert Schule nicht!" Vieles Neue hat Einzug gehalten, aber die allerwichtigste Entscheidung bei der Neuausrichtung ist für Personalchef Stahnke, dass er bei Neueinstellungen oder Versetzungen mit den Lehrern und Lehrerinnen reden kann, um sich über ihren Blick auf Schule ein Bild zu machen.
Begriffe wie Erlasse und Verordnungen passen so gar nicht in diese neu zu kreierende Schulwelt. Stahnke ist ein Schulleiter, der das öffentliche Schulwesen unter öffentlicher Aufsicht will. "Diese Aufsicht muss sich allerdings verändern. Wir können Schule letzten Endes nur bewegen, an den unterschiedlichen Standorten, mit den unterschiedliche Bedingungen und unterschiedlichen Menschen, wenn wir die Leute, sprich die Lehrer, die vor Ort arbeiten, ins Boot holen. Mit Erlassen und Verordnungen kriegen wir das nicht geregelt. Wir selber müssen das auch wirklich verantworten." Der Mathe- und Geschichtslehrer, seit 33 Jahren im Beruf, ist Realist: "Wir stehen in Sachen Autonomie erst am Anfang der Geschichte." Seine Zielvorstellung sieht er beim Nachbarn Holland realisiert, wo laut seiner Einschätzung 70 Prozent der Schulen eigentlich autonom sind. Dort gibt es beispielsweise Stellenpläne, die Beförderungen auf Zeit zulassen. Eine Schulgemeinde wählt dort den Schulleiter, der einen befristeten Vertrag bekommt. Budgets dürfen so aufgeteilt werden, dass Teilzeitverträge möglich sind. Besonders bei der Personalführung sind Stahnke in Deutschland die Hände gebunden. Das deutsche Arbeitsrecht erlaubt ihm, nur ganze Stellen zu vergeben. Entlassen kann er verbeamtete Lehrer sowieso nicht.
Der erfahrene Direktor würde gerne viel mehr Fesseln sprengen, zum Beispiel nach holländischem Vorbild Schüler gerne "klassifizieren", damit personelle Ressourcen je nach Leistungsfähigkeit des einzelnen eingesetzt werden können. Doch das ist noch Zukunftsmusik. An der Bertolt-Brecht-Gesamtschule ist der Auftakt zur Autonomie geschafft. Die Fortsetzung folgt, aber nur wenn alle, die Schule und Lehrerausbildung zu verantworten haben, den Reformweg konsequent weitergehen.