Auf die Spuren seiner frühesten Kindheit hat sich der Kölner Schriftsteller Wolfgang Bittner begeben. 1941 im oberschlesischen Gleiwitz (heute Gliwice) geboren, musste er die Heimat nach Kriegs-ende verlassen. Der Band "Überschreiten die Grenze" enthält Gedichte und ein Reise-Essay. Er ist das Ergebnis eines fünfmonatigen Aufenthalts in Krakau, unweit der Stätten seiner Kindertage. Bittner bietet alle Texte mit polnischer Übersetzung an. So lässt er auch polnischsprachige Leser an seinen Gedanken teilhaben.
Der Autor, der kein Polnisch spricht, sucht auf eigene Faust. Er besorgt sich eine Karte, die sowohl die deutschen als auch die polnischen Ortsnamen enthält, und fährt los. Er trifft auf die "verfallenen Gebäude eines ehemaligen Gutshofs" und entdeckt das frühere Schloss der Grafen Schaffgotsch. Er stößt an einem Bahnhof auf eine verblichene deutsche Inschrift und lässt sich in seiner Geburtsstadt Gleiwitz von dort gebliebenen Deutschen erzählen, wie sie die Nachkriegszeit und vier Jahrzehnte Kommunismus erlebt haben. Rührende Begegnungen gibt es mit den Einheimischen. Auf beiden Seiten gäbe es viel zu sagen, doch die Sprache bleibt ein Hindernis. Bittner glaubt, dass die oft noch spürbare "Verkniffenheit" im gegenseitigen Umgang überwunden werden kann. Voraussetzung dafür ist für ihn neben der Anerkennung der Grenze, dass die deutsche Kriegsschuld nicht heruntergespielt, aber auch nicht instrumentalisiert wird.
Der Reise-Essay bildet den kleineren Teil des Bandes. Bittner verarbeitet seine Eindrücke, aber auch die schemenhaften Erinnerungen an Kindertage in Oberschlesien vorzugsweise in Gedichten. In "Gleiwitz 1990" heißt es: "Alles wiedererkannt: Bahnhof, Wilhelmstraße, Haus Oberschlesien, der Markt, Hof und Spielplatz nach 45 Jahren." Die innere Zerrissenheit spiegelt sich in den verwendeten Ortsbezeichnungen. Die urpolnischen Städte Krakau und Warschau werden mit ihrer deutschen Bezeichnung genannt, oberschlesische Orte, die über Jahrhunderte deutsch waren, dagegen häufig in der polnischen Variante.
Der Leser spürt: Bittner möchte angenommen werden von den Menschen, die jetzt in Oberschlesien leben. Er ist nicht nur einfach irgendein "Niemiec", ein Deutscher, sondern er ist einer, der dazu gehört, dessen Wurzeln in diesem Land ruhen. Man kann auch einen Appell an die heutigen polnischen Schlesier herauslesen, die deutsche Vergangenheit der Region nicht länger totzuschweigen, sondern sie wiederzuentde-cken und für die Zukunft Schlesiens in einem Europa ohne Grenzen nutzbar zu machen.
Wolfgang Bittner
Überschreiten die Grenze.
Gedichte und ein Reise-Essay.
Athena-Verlag. Oberhausen 2004; 223 S., 12,90 Euro