DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière empfiehlt überraschend Bundeskanzler Helmut Kohl - beide CDU - am 5. August, sowohl den Beitritt als auch den in Aussicht genommenen Wahltermin vom 2. Dezember auf den 14. Oktober vorzuverlegen. Während Kohl diesen Vorschlag begrüßt, da damit den Wünschen der Menschen in beiden Teilen Deutschlands entsprochen würde, kritisiert die oppositionelle SPD in Bonn, ein solches Vorgehen sei nicht mit dem Grundgesetz vereinbar.
Der am 3. August von Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) und DDR-Staatssekretär Günther Krause verhandelte Wahlvertrag sieht vor, dass die ersten gesamtdeutschen Wahlen zum Bundestag nach einheitlichem Wahlrecht stattfinden sollen. Zudem ist es danach möglich, dass nicht miteinander konkurrierende Parteien Listenverbindungen eingehen können. Kleinere Parteien sollen damit eine "faire Chance" - so die Verhandlungsführer - erhalten. Dieser Vertrag wird am 8./9. August in der Volkskammer zur Abstimmung gestellt. In der Debatte wird heftige Kritik seitens der Opposition geübt. Es kommt zu turbulenten Szenen, da zur Abstimmung nach Mitternacht Versuche unternommen werden, bereits abwesende Abgeordnete zurückzurufen. Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung: 258 Ja-Stimmen, 63 Nein-Stimmen, fünf Enthaltungen und eine ungültige Stimme. Die erforderliche Zweidrittelmehrheit - 267 Abgeordnete - ist damit nicht erreicht. 73 Abgeordnete haben an der Abstimmung nicht teilgenommen.
In der Bundestagsdebatte am 8. August begründet Schäuble den Wahlvertrag mit der DDR und bezeichnet ihn als einen weiteren wichtigen Schritt zur Vollendung der Einheit Deutschlands in Freiheit. Dazu sei es notwendig gewesen, einen Kompromiss einzugehen, um beiden Vertragsparteien gerecht zu werden. Dieser Kompromiss verletze nicht den Gleichheitsgrundsatz und gelte im Übrigen nur für die erste gesamtdeutsche Wahl.
Für die SPD fordert Willfried Penner, dass bei der Festlegung des Wahltermins das Grundgesetz zu beachten ist. Beim Wahltermin gehe es "um Kohl, nicht etwa um den Staat, nicht um die staatliche Einheit". Seine Fraktion halte den Wahlvertrag für akzeptabel. Penner betont, dass es nicht anstößig sei, dass das Wahlrecht auch die Arbeitsfähigkeit des neuen Parlaments sicherstellen soll.
Der Berliner Abgeordnete Wolfgang Lüder hebt für die FDP hervor, dass dies nur ein Wahlrecht für eine Übergangssituation sei. Er versichert, dass es ein verfassungswidriges Vorziehen der Bundestagswahl mit seiner Partei nicht geben werde. Eine Verfassungsänderung sei korrekt möglich, weil das "erste und bedeutendere Wort zum Wahltermin die Kolleginnen und Kollegen aus der Volkskammer haben sollten, denn die haben freie Wahlen zu lange vermisst".
Nach Meinung von Gerald Häfner (Grüne) sorge sich die Bundesregierung und die Koalition um die eigenen Wahlchancen, statt der katastrophalen wirtschaftlichen und sozialen Lage in der DDR zu begegnen. Er wendet sich sowohl gegen die Fünf-Prozent-Klausel im gesamten Bundesgebiet als auch gegen mögliche Listenverbindungen, weil das Prinzip der Stimmen- und Chancengleichheit verletzt werde. Die Grünen lehnen das nach ihrer Auffassung undemokratische und verfassungswidrige Wahlrecht ab.
Der CSU-Landesgruppenvorsitzende Wolfgang Bötsch beklagt, dass sich die SPD dem verständlichen Wunsch, rasch zur ersten gesamtdeutschen Wahl zu kommen, verweigere. Die Haltung der Sozialdemokraten bezeichnet er als unverantwortlich. Die Bestimmungen des Wahlgesetzes sind nach seinen Worten ein gangbarer und guter Weg angesichts der historischen Stunde der Herstellung der deutschen Einheit.
Der Gesetzentwurf (Drucksache 11/7624) wird an die Ausschüsse überwiesen. Die Verabschiedung am Tag darauf wird wegen der Ablehnung in der Volkskammer auf den 23. August verschoben.