Auch der angekündigte "saubere Feldzug" erwies sich als Chimäre. Nach einem Bericht der seriösen britischen Medizin-Zeitschrift "Lancet" verloren etwa 98.000 Iraker ihr Leben - meist bei Luftangriffen.
Krieg und Plünderungen liegen über zwei Jahre zurück. Inzwischen ist das Leben in einem der potenziell reichsten Länder der Erde für die Menschen noch mehr zum Alptraum geworden. Besonders Bagdad ist im Chaos versunken. Denn mit dem Regime Saddam Husseins ist auch jede staatliche und zivile Ordnung untergegangen. Es herrscht das Gesetz der Straße. Hauptbeschäftigung vieler Bürger ist es, ihr Leben zu schützen. Auf dem Weg zur Arbeit, zur Schule, zum Einkaufen - überall lauern Gefahren: Autobomben, Schießereien, Entführungen gehören zum Alltag.
Ein Beispiel für den Kreislauf der Gewalt: Wer als Ausländer heute die im Zentrum gelegene Saadun-Straße entlanggeht, muss damit rechnen, von einer der vielen Gangs entführt zu werden. Die Kidnapper setzen sich dann mit den sunnitischen Terroristen der Gruppe Al Qaida in Mesopotamien unter Führung des Jordaniers Abu Mussab al-Zarkawi in Verbindung und verkaufen die Geisel für ein paar zehntausend Dollar an Aufständische. Diese versuchen zunächst, von dem jeweiligen Land ein Millionenlösegeld zu bekommen. Mit der Summe wiederum können sie für lange Zeit ihren Terrorkrieg finanzieren. So ernährt Kidnapping den Krieg - und der Krieg das Kidnapping. Die zivile Ordnung, die auch Saddams Irak auszeichnete, ist von Anarchie abgelöst worden.
Auch wohlhabende Iraker vermeiden es, soweit es geht, ihre Kinder auf die Straße zu schicken. Allzu leicht werden sie entführt. Die Kriminellen haben in Bagdad schon Büros eingerichtet, in denen Eltern nach dem Verbleib ihrer verschwundenen Kinder fragen können. Die Polizei ist machtlos. Oft steckt sie mit den Entführern unter einer Decke. Und oft bekommen die verzweifelten Eltern achselzuckend die Antwort, sie müssten eben das geforderte Lösegeld zahlen.
Die Folge ist für das Land verheerend: die Furcht vor Entführungen, davor, eines Tages von einer der vielen Explosionen getötet oder verletzt zu werden, ist so groß, dass insbesondere die Elite, Professoren, Ärzte, Wissenschaftler den Irak in Richtung Jordanien und Syrien verlassen. So verliert der Irak, durch Saddams Kriege, die UN-Sanktionen und die anglo-amerikanische Invasion schon ausgeblutet, sein letztes intellektuelles Potenzial.
Die Schäden, welche dem Land zugefügt werden, sind immens und für lange Zeit nicht reparierbar. Und wie einst friedliche Bürger, die der Krieg und die Nachkriegswirren jetzt zu professionellen Kriminellen in Form von Kidnappern und Raubmördern gemacht hat, jemals wieder resozialisiert werden können, ist nicht absehbar. Schon verändert Bagdad sein Gesicht. Hunderttausende von armen Schiiten, von denen die meisten nicht einmal eine richtige Schulausbildung haben, strömen in die Hauptstadt, bauen ohne Genehmigung Hütten und Häuser und beginnen, dem Rest der noch existierenden bürgerlichen, weltoffenen Mittelschicht ihren engstirnigen religiös-sektiererischen Lebensstil aufzuzwingen, indem sie Frauen zwingen, Kopftuch oder Schleier zu tragen.
Eine international anerkannte Errungenschaft des früheren Iraks - der säkulare Staat - geht immer mehr verloren. Dass in manchen Teilen Bagdads noch immer die Telefone nicht funktionieren, dass es auch im Sommer bei einer Hitze von über 50 Grad Celsius keinen Strom für Klimaanlagen gibt und dass viele immer noch von Lebensmittelrationen leben - all dies zählt angesichts des physischen und religiös-ideologischen Terrors fast zu den kleineren Übeln.
Die Bilanz nach zwei Jahren Okkupation ist verheerend. Wann die von Amerikanern und Briten versprochene rosige Zukunft beginnt, weiß niemand. Der Wiederaufbau, nach dem Sieg der Alliierten mit wohltönenden Worten angekündigt, ist angesichts des Chaos weitgehend ausgesetzt. Der Ölreichtum versickert weiterhin oft in dunklen Kanälen. In vertraulichen Gesprächen deuten Mitarbeiter des Ölministeriums an, dass US-Firmen Öl nicht zum Weltmarktpreis von circa 50 Dollar, sondern zum Dumpingpreis von circa 27 Dollar pro Fass bekommen. Angesichts der überall wuchernden Korruption ist es für Spekulanten ein Leichtes, an Verladestationen große Mengen Öls für den blühenden Schwarzmarkt abzuzapfen. Aufständischen gelingt es zudem immer wieder, Pipelines zu beschädigen und so den Export zu stören.
Ein Fazit nach über zwei Jahren Besatzungszeit lautet: Die USA können zwar ein Land erobern, im Gegensatz zu den Briten sind sie aber keine "guten" Okkupatoren. In der britischen Besatzungszone im Süden ist es nicht nur deshalb so ruhig, weil sich die Schiiten im neuen Irak eine führende Rolle versprechen. Die Briten haben es nämlich mit ihrer langjährigen kolonialen Erfahrung fertig gebracht, die Menschen, die Stämme, ruhig zu stellen. Wie in Zeiten des Empires haben sie sich - ohne dabei Waffen zu tragen - mit Scheichs und Stammesführern zusammengesetzt, Konflikte bereinigt und ihre Politik dargelegt. Es ist nicht zu erwarten, dass aus den Amerikanern über Nacht "gute" Okkupatoren werden. In Bagdad gehen sie vor allem eigenen Interessen nach: Sie kontrollieren das Öl-, Verteidigungs- und Außenministerium. Alle übrigen Ressorts - jene, deren Aufgabe es ist, das tägliche Leben der Menschen zu erleichtern - haben sie Irakern überlassen. Die Parteien, welche die Minister dieser Ressorts stellen, beschäftigen oft nur Mitglieder ihrer eigenen Klientel, ohne Rücksicht darauf, ob diese qualifiziert sind. Häufig werden Analphabeten eingestellt. Die Ministerien gelten Politikern und Mitarbeitern nicht selten nur als Feld, das man finanziell abernten kann, denn die derzeitige, nach langen Querelen geformte Regierung bleibt voraussichtlich nur bis Ende des Jahres im Amt. Diese kurze Zeit nutzen viele, um sich zu bereichern, nicht aber um Telefone, Kraftwerke, Krankenhäuser in Ordnung zu bringen. Im Regime des Despoten gab es Korruption auf höchster Ebene: Saddams Clan, sein Stamm und hoch stehende Gefolgsleute aus der Baath-Partei haben sich bereichert. Zumindest vor den Sanktionszeiten aber war Korruption in der Regierung nicht so ausgeprägt. Inzwischen hat sie sich in fast jedes Büro der Regierung hineingefressen. Fast schon angewidert haben die Menschen die Hoffnung auf baldige Erlösung aufgegeben.
Wird es dennoch bald zu einer moralischen und politischen Wende kommen? Zunächst bleiben wieder nur traurige Tatsachen zu berichten. Der Krieg hat die religiös-radikalen Kräfte gestärkt. Die Invasion hat dazu geführt, dass der einst stabile Irak zu einem Plateau für den islamischen Terrorismus geworden ist. Beobachter haben eine solche Entwicklung vorausgesagt.
Verschiedene Gruppen tummeln sich im Zweistromland: Al-Zarkawis Al Qaida ist die berüchtigtste von ihnen. Weniger bekannt sind die Ansar al-Sunna ("Helfer der Sunniten"). Auch diese Gruppe verübt Terrorakte gegen Zivilisten. Schließlich die "Irakische Islamische Armee", der vornehmlich Nationalisten angehören. Sie wird von vielen als die wahre, sozusagen aufrechte Widerstandsgruppe angesehen, weil sie "nur" amerikanische Soldaten attackiert, nicht aber irakische Bürger. In der täglichen Berichterstattung ist meist nur von Anschlägen auf Zivilisten in Bagdad die Rede. Doch es gibt fast ebenso viele Überfälle auf die Konvois der Besatzer außerhalb.
Zudem muss man davon ausgehen, dass bereits Bürgerkrieg herrscht. Die meisten der neu rekrutierten Polizisten und Soldaten sind Schiiten. Diese gehören meist zu den ärmeren Bevölkerungskreisen, aus wirtschaftlicher Not melden sich viele freiwillig bei den Sicherheitskräften. Die Selbstmordattentäter aber sind zumeist Sunniten. Sie bekämpfen die Schiiten, weil sie aus ihrer Sicht mit den Besatzern kollaborieren - und weil sie Schiiten sind. Diesem Kriegsszenario entspricht die politische Aufstellung, welche durch die Wahlen geschaffen wurde. Religiös ausgerichtete Schiiten beherrschen die Bühne - ein Ergebnis, vor dem Amerikaner und Briten stets ihre Augen verschlossen haben. Gemäßigte, nicht religiös orientierte Schiiten wie Übergangspremier Iyad Allawi schnitten bei den Wahlen dagegen schlecht ab.
Vordringliche Aufgaben für die nächsten Monate sind die Ausarbeitung einer neuen Verfassung, ein Referendum, abermalige Parlamentswahlen und die Bildung einer ständigen Regierung. Wenn es Amerikanern und Briten gelingen sollte, eine in ihren Grundlagen weltlich-liberale Verfassung durchzusetzen und den gemäßigten Kräften der Schiiten und Sunniten - die sich diesmal dem Urnengang nicht verweigern dürften - zum Durchbruch zu verhelfen, dann hat der Irak womöglich doch eine Chance, dem Würgegriff der religiösen Radikalen zu entkommen.
Dennoch ist die Hoffnung gering, dass das amerikanische Demokratieprojekt in absehbarer Zeit doch noch in die Erfolgsspur gelenkt werden kann. Die Menschen haben inzwischen fast jede Zuversicht verloren. Sie hassen die Besatzer, die Terroristen und auch ihre frei gewählte Regierung, die es nicht fertig bringt, Sicherheit herzustellen und das tägliche Leben erträglich zu gestalten. Kein Wunder, dass mancher Iraker inzwischen die Zeit der Despotie in einem anderen Licht sieht: Man habe zwar den Mund halten müssen, aber Autobomben, Entführungen und nächtliche Überfälle habe es nicht gegeben.
Wird der Irak überhaupt als Ganzes überleben oder in seine Einzelteile zerfallen? Die Frage, oft gestellt, ist kaum zu beantworten. Einen kurdischen Staat im Norden würden die Türken nicht dulden, einen schiitischen im Süden würde die saudische Königsfamilie bekämpfen. Und die sunnitische Mitte um Bagdad als Teil eines erweiterten Haschemitischen Königreiches mit Abdallah II. von Jordanien an der Spitze? Kaum denkbar. Die Iraker werden wohl mit dem bestehenden Irak leben müssen - vorausgesetzt, den völkerrechtlich verantwortlichen Besatzern gelingt es, menschenwürdige Lebensverhältnisse zu schaffen.
Heiko Flottau, von 1996 bis 2004 Nahost-Korres-pondent der
Süddeutschen Zeitung, arbeitet als freier Journalist in
Kairo.