Ahmed Abdullah al-Hasani, ehemaliger Botschafter des Jemen in Syrien, ersuchte Ende April die britische Regierung um Asyl. Seine Begründung: die jemenitische Regierung habe einen Mordanschlag auf ihn veranlasst. Zudem werde er wie andere Persönlichkeiten aus dem ehemaligen Südjemen systematisch benachteiligt und verfolgt. Ob al-Hasanis Anschuldigungen im Einzelnen einer Überprüfung standhalten oder nicht - sie spiegeln eine im Südjemen weit verbreitete Meinung. Demnach habe der Bürgerkrieg von 1994, der dem Scheitern der 1990 vollzogenen friedlichen Vereinigung des eher westlich orientierten, konservativen Nordjemen und des marxistisch geprägten Südjemen folgte, einer Annexion geglichen. Die politische Elite sei entmachtet worden, ein islamisches Gesellschaftsverständnis oktroyiert und natürliche Reichtümer wie die bescheidenen Erdölvorkommen seien fortan als Pfründe zwischen den Mitgliedern der nordjemenitischen Elite aufgeteilt worden. Der Konflikt zwischen Norden und Süden besteht, wie dieses Beispiel zeigt, aller Regierungsrhetorik zum Trotz fort.
Im Gegensatz zu dem Bild eines innerlich gespaltenen und nur durch Repression zusammengehaltenen Jemen, das Oppositionelle gern im Ausland verbreiten, gibt es das kontrastierende Bild von dem Land als blühende Demokratie auf der Arabischen Halbinsel. Partizipationsmöglichkeiten und bürgerliche Freiheiten sind sicher nicht mit denen westlicher Staaten zu vergleichen. Dennoch gehört das Land auch nicht zu der Gruppe nahöstlicher "Demokratien", die nur auf dem Papier existieren und hinter denen sich autoritäre Herrscher, umgeben von Netzwerken aus Geheimdienstlern, Militärs und Wirtschaftsführern, verbergen. Es finden regelmäßig Wahlen statt, bei denen vor der Abstimmung noch keine Listen mit Wahlsiegern exis-tieren. Unregelmäßigkeiten sind an der Tagesordnung, doch werden diese zumindest teilweise von einer relativ freien Presse angeprangert.
Manche ausländischen Beobachter und Institutionen wie die Friedrich-Ebert-Stiftung zeigen sich davon so beeindruckt, dass sie dem Land eine "institutionell funktionierende und mit politischem Leben erfüllte Demokratie" attestieren. Eine solche Darstellung ist nicht gänzlich falsch. Doch kann man kaum von einer funktionierenden Demokratie sprechen, wenn sie nicht ein einziges Mal den Lackmustest eines friedlichen Machtwechsels durch Wahlentscheidung bestanden hat. Die bisherigen Parlamentswahlen führten zwar zu Regierungsumbildungen und der Teilhabe unterschiedlicher politischer Koalitionen an der Macht, aber es kam nie zu einem Wechsel im Amt des Präsidenten. Dieser, nicht etwa der Ministerpräsident, legt die Grundlinien der Politik fest, bestimmt über die Verwendung staatlicher Ressourcen und stellt damit das eigentliche Machzentrum dar. Amtsinhaber Ali Abdallah Salih zählt bereits mit zu den am längsten amtierenden Staatsoberhäuptern und er macht gleichfalls Anstalten, seinen Sohn als Nachfolger zu installieren. Arabiens blühende Demokratie - eine solche Einschätzung ist zudem problematisch, da sie das Spezifische an der jemenitischen Entwicklung verkennt. Die erfolgreichen Wahlen auf lokaler und regionaler Ebene, das zunehmend aktiver werdende Parlament, das seit einem Jahr die Regierungspolitik verstärkt kritisch begleitet - dies alles spricht für eine solche Entwicklung. Doch sind Institutionen wie Parlament, Gerichte und Ministerien nur ein Ort, an dem um Macht und Gestaltungsmöglichkeiten gestritten wird.
In komplexen Wechselbeziehungen zu ihnen stehen die Stämme, die eine entscheidende militärische Macht darstellen. Sie verhindern die Entstehung eines effektiven staatlichen Gewaltmonopols und bilden ein Gegengewicht zu staatlichen Machtinstrumenten wie Armee, Polizei und Geheimdiensten. Vor allem im Norden profitieren die Stämme von staatlichen Zuwendungen und beeinflussen die nationalen Entscheidungsprozesse durch ihre parlamentarischen Vertreter. Gleichzeitig wehren sie Versuche des Staates ab, ihnen ihre lokale Autonomie zu nehmen und die Beziehungen zwischen Staat und Stämmen zu verrechtlichen. Diese müssen daher immer wieder neu ausgehandelt werden, was manchmal gewalttätige Formen annimmt, aber im Normalfall eine andauernde Form der Kommunikation und eine ständige Suche nach einem tragfähigen Kompromiss beinhaltet. So verhindern die Stämme die Entwicklung des Jemen hin zu Staatlichkeit und Demokratie - und sichern gleichzeitig eine quasi-föderale Beschränkung der staatlichen Macht, die eine Entwicklung zur Despotie unmöglich macht.
Dieses auf pragmatischer Konsensfindung basierende System des Interessenausgleichs gerät jedoch häufig aus dem Gleichgewicht. Beispielhaft hierfür ist der Konflikt zwischen Regierungstruppen und Anhängern des zaiditischen Predigers Hussein Badr ad-Din al-Huthi. Allein 2005 starben in diesem Konflikt (bis Mai) mehrere hundert Anhänger, Regierungssoldaten und wohl auch Unbeteiligte. Die Familie al-Huthi und andere Vertreter der Zaidiyya - einer schiitischen Rechtsschule und die politisch dominante Form des Islams im Nordjemen bis zur Absetzung des von ihr legitimierten Imam 1962 - werden als Terroristen bezeichnet, die den Staat umstürzen wollten.
Die Angst der Regierung angesichts der wachsenden Popularität al-Huthis in Teilen der Bevölkerung ist als Konfliktauslöser jedoch wahrscheinlicher. Hussein Badr ad-Din al-Huthi hatte die Regierung für ihre angeblich unislamische Politik und speziell für die Nähe zu den USA kritisiert. Die Popularität einer solchen Kritik im Jemen, der sich schon im zweiten Golfkrieg (1991) nicht der antiirakischen Koalition angeschlossen hatte, erschien der Regierung womöglich als eine zu starke Bedrohung.
Auch internationaler Druck auf die Regierung könnte zur Eskalation des Konflikts beigetragen haben. Diese agierte nach dem 11. September geschickt genug, um die Streichung des Jemen von der Liste der Schurkenstaaten zu erreichen. Sie wird nun von den USA als Verbündeter im Kampf gegen den Terror angesehen und erhält großzügige Militärhilfen. Die Annahme liegt nahe, dass Sanaa diesen Status behalten möchte und deshalb einen innenpolitischen Konflikt rhetorisch in der internationalen Terrorbekämpfung ansiedelt. Gegen das eigentliche Ziel des "Krieges gegen den Terror", die im Jemen wie in allen arabischen Ländern vorhandenen sunnitischen oder wahabitisch-islamistischen Gruppen, ging die Regierung lange sehr viel weniger vehement vor. Erst in der Folge von Anschlägen gegen US-Soldaten im Land war sie gezwungen, dies zu ändern.
Seit 2002 geschieht dies durch eine Doppelstrategie von Repression und Dialog. Zwar kam es auch hier zu Massenverhaftungen, dubiosen Gerichtsverfahren und extralegalen Hinrichtungen, die in mindestens einem Fall von den USA durchgeführt wurden, aber es gibt auch eine Art Reintegrationsprogramm. Das vom Richter Hamud Abdulhamid al-Hitar geleitete Projekt beabsichtigt die Änderung der Überzeugungen von Islamisten durch Diskussion über ein anderes Religionsverständnis. Obwohl der langfristige Erfolg nicht gesichert ist, kann dieses Projekt als der erste ernsthafte Versuch in der arabischen Welt angesehen werden, dem Dilemma im Umgang mit Islamisten zu entkommen: Arabische Länder haben seit den 60er-Jahren die Erfahrung gemacht, dass das Einsperren von Islamisten nicht nur zur Radikalisierung führt, sondern ihnen auch noch die Möglichkeit gibt, ganze Gefängnisse von ihren Ansichten zu überzeugen. Der Jemen übernimmt hier eine Vorreiterrolle.
Eine wesentliche Quelle von Instabilität ist die zunehmende Armut im Lande. Der Jemen gehört mit einem durchschnittlichen Jahreseinkommen von 460 US-Dollar pro Kopf zu den ärmsten Ländern der Welt und liegt laut AHDR auf Platz 148 von 175 Ländern. Die Bevölkerung wächst rasant, was zur Überforderung der ohnehin rudimentären Infrastruktur im Bildungs- und Gesundheitswesen beiträgt. Im Unterschied zu den anderen Ländern auf der Halbinsel verfügt der Jemen nur über geringe Ölvorkommen, deren Ausbeutung trotzdem über 70 Prozent der Staatseinnahmen ausmacht. Dem Staat als mit Abstand größtem Arbeitsgeber steht eine immense Zerreißprobe bevor, wenn das Öl ab 2012 zur Neige geht. Die Arbeitslosenquote von über 30 Prozent dürfte dann weiter steigen. Zudem ist die weiterhin vom Großteil der Bevölkerung praktizierte Landwirtschaft durch rapide sinkende Grundwasserspiegel bedroht. Ein seit 40 Jahren überwunden geglaubtes Schreckgespenst droht wieder aufzutauchen: Hungersnöte, die sich über einen Großteil des Landes erstrecken und mangels Devisen nicht durch Importe abgemildert werden können.
Der Jemen steht somit "auf der Kippe". Eine viel versprechende politische Entwicklung wird durch einen Präsidenten mit dynastischen Plänen bedroht. Zwar kündigte dieser kürzlich an, er wolle bei den Präsidentschaftswahlen 2006 nicht mehr kandidieren, aber dies könnte wie vor sechs Jahren auch ein Manöver sein, mit dem er zeigen will, dass es keine Alternative zu ihm gibt - oder mit dem er seinen Sohn an die Macht bringen will.
Zudem stellen ökonomische und ökologische Probleme eine Gefährdung für das Land dar. Um zu verhindern, dass es in einigen Jahren zur Gruppe der vom Bürgerkrieg zerrütteten "failed states" gerechnet werden muss, benötigt es eine massive eigene Kraftanstrengung. Doch selbst dies wäre ohne Unterstützung seitens reicherer Länder wohl umsonst. Staaten wie die USA und einige europäische Länder stehen vor der Wahl, ob sie die hunderte Millionen Dollar, die sie zurzeit vor allem für den Aufbau des Militärs ausgeben, nicht in Infrastrukturprojekten und Bildungsmaßnahmen anlegen, um so einen sozialen und effektiveren Beitrag im "Kampf gegen den Terror" zu leisten.
Professor Ulrike Freitag leitet das Zentrum Moderner Orient (ZMO)
zu Berlin; David Schmitz ist Islamwissenschaftler und arbeitet als
studentische Hilfskraft am ZMO.