Das Thema Migration ist in der deutschen Kulturdiskussion angekommen: Deutschland ist ein Einwanderungsland - auch Kulturpolitikern, Museumsdirektoren und Theaterdezernenten wird zunehmend bewusst, dass sie darauf reagieren müssen. Interkulturpolitik heißt das neue Zauberwort. Das Land Nordrhein-Westfalen lässt in einem Pilotprojekt gerade sechs Kommunen praktisch ausprobieren, wie sich deutsche Kultureinrichtungen stärker für Zuwanderer öffnen könnten. Für die Stadt Dortmund koordiniert Musikschulleiter Gerland das Unternehmen.
Nurkan Erpulat studiert an einer ehrwürdigen deutschen Hochschule Schauspiel-Regie, als einziger Türke weit und breit. Der 30-Jährige ist extra aus Istanbul zum Studium nach Berlin gekommen; die Aufnahmeprüfung der Schule garantiert eine kleine Zahl handverlesener Studenten. Dennoch werde ihm vielfach Hochkultur nicht zugetraut. "Da kommt dann die Frage, ob ich Shakespeare kenne. Bei Migranten-Themen heißt es sofort: Du bist dran! Kein Problem, ein Stück zu machen über zwei jugendliche Türken, die Autos klauen und Drogen verkaufen. Aber Heinrich IV?!". Für Erpulat besteht das Problem in einer grundsätzlichen Kultureinstellung in Deutschland: "Türkische Kultur, oder indische, afrikanische, wird nicht als Hochkultur gesehen, anders als englische oder französische. Das ist mehr so ethnische Kultur." Willkommen - wenn überhaupt - als Bereicherung des Lebens, als zusätzliche Farbe im Spektrum. Aber keine Hochkultur, mit der sich die deutsche Kulturnation auf Augenhöhe auseinandersetzen müsste. Und deshalb, findet der Regie-Student, stehen Kulturaktivitäten von Migranten in Deutschland auch unter einer merkwürdigen Art Artenschutz: Nurkan Erpulat kann sich rechtschaffen über deutsche Politiker ereifern, die zwar Geld für türkischsprachige Theater in Deutschland bereit stellen, aber nie deren Qualität und Auslastung überprüfen. Wer sich nicht am allgemeinen Maßstab messen muss, fühlt sich auch nicht ernst genommen.
Ist es überhaupt Aufgabe einer Interkulturpolitik, türkischsprachige Theater, griechische Volkstanzgruppen oder russische Balalaika-Ensembles in Deutschland zu fördern? "Wir selbst machen keine monoethnischen Veranstaltungen", sagt Heinz Räther, Kulturmanager bei der Werkstatt der Kulturen in Berlin. Die Werkstatt begreift sich als ein "Ort interkultureller Kunst und Kommunikation", als Plattform für Migranten und migrantische Themen, sofern sie grenzüberschreitend sind. Die Tanz- und Theaterabende der Einrichtung ziehen ein ziemlich gemischtes Publikum an: Knapp 40 Prozent der Besucher haben einen "Migrationshintergrund", was in diesem Fall bedeutet: Sie selbst oder ein Elternteil ist nicht in Deutschland geboren. Zugleich sind sie überdurchschnittlich gebildet. Bildungsferne Schichten, sagt Räther offen, kommen nicht ins Haus: "Egal, ob migrantisch oder deutsch, das Kernproblem ist dasselbe: Die haben Scheu, Kulturhäuser zu betreten." Statt über Kultur und Migration könnte man vielfach auch einfach über Bildungschancen von Migranten reden.
Als Veranstaltungsort steht die Werkstatt der Kulturen aber für die einzelnen Berliner Migrantenvereine offen. Viele dieser Vereine plagen inzwischen Nachwuchssorgen: Mussten die ersten "Gastarbeiter" in den 70er- und 80er-Jahren noch eigene Kultur-Vereine gründen, in denen sie Traditionelles in der Fremde pflegten, finden ihre Kinder diese Vereine ähnlich attraktiv wie junge Deutsche die Männergesangsvereine ihrer Großväter. Räther sieht diese Entwicklung nicht ungern: "Ich glaube, die ständige Rückversicherung auf die Herkunftskultur fördert die Integration nicht." Gebildete jüngere Migranten sind seiner Erfahrung nach besonders offen für interkulturelle Projekte. "Die wollen Normalbehandlung." Gerade die zweite, dritte Generation sehe sich als Teil der deutschen Gesellschaft.
Doch die deutsche Kulturbürokratie trennt oftmals nach Migrant und Nicht-Migrant beziehungsweise Deutsch und Nicht-Deutsch. "Es ist natürlich ein Riesenunterschied im Renommee, ob man als Künstler aus dem Fonds zur Förderung kultureller Aktivitäten ausländischer Mitbürger gefördert wird oder aus dem Hauptstadtkulturfonds", sagt Räther. Die Werkstatt der Kulturen selbst ist beim Integrationsbeauftragten angesiedelt, nicht beim Berliner Kultursenator.
Migration bedeutet: Die fremde Kultur lebt gleich nebenan. Wie können wir Migranten besser in unsere Vereinstätigkeit einbinden? Diese Frage beschäftigt auch Irina Gerybadze-Haesen, die Vorsitzende der "Deutsch-Russischen Brücke Bad Homburg". Deutsche, die sich für russische Kultur interessierten, initiierten vor zehn Jahren eine Städtepartnerschaft mit dem russischen Peterhof. Mittlerweile sind 20 der rund 200 Vereinsmitglieder Zugewanderte aus der ehemaligen Sowjetunion. "Es waren vor allem russische Juden, die den Kontakt zu uns gesucht haben", berichtet Gerybadze-Haesen. Für sie war der Verein eine Gelegenheit, um mit Deutschen in Kontakt zu kommen. "Für den Verein war das natürlich eine Bereicherung. So haben wir das auch immer empfunden", sagt die Vorsitzende.
Von den ebenfalls im Bad Homburger Umfeld lebenden deutschen Spätaussiedlern aus der ehemaligen Sowjetunion bekommt der Verein dagegen kaum etwas mit: Nur ganz vereinzelt hat da jemand Kontakt aufgenommen. Eine junge Frau gibt russische Sprachkurse in dem Verein. "Viele Aussiedler sind nicht so gebildet, die meisten wollen auch ihre Vergangenheit hinter sich lassen", weiß Irina Gerybadze-Haesen. Doch wer nicht von sich aus kommt, muss vielleicht direkter eingeladen werden? "Wir dürfen uns vor diesen neuen Bewohnern nicht verschließen", hebt die Vereinsvorsitzende hervor, "und wahrscheinlich müssen wir Deutschen den ersten Schritt auf die hier lebenden Migranten zugehen". Sonst habe man irgendwann russische Kultur in Deutschland, die mit den deutsch-russischen Kulturvereinen nichts zu tun habe.
Auch der Dortmunder Musikschulleiter Volker Gerland sieht die deutsche Seite in einer "Bringschuld" gegenüber den Migranten: "Wir müssen unsere Angebote deutlich machen." Russische Eltern beispielsweise schickten ihre Kinder nur selten in die Musikschule, weil diese in ihrer Heimat Teil einer Elite-Ausbildung war. "Aber in Deutschland kann man zur Musikschule kommen, auch wenn man mit zehn Jahren noch nicht Chopin spielen kann."
Der Wille ist da, die Wege sind unbekannt: Auch der aktiven Dortmunder Musikschule fällt es schwer, ihre Angebote in die einzelnen Communities zu kommunizieren. Volker Gerland hat im Rahmen des NRW-Pilotprojektes einen runden Tisch organisiert, damit Vertreter von Dortmunder Migrantengruppen, deutsche Kultureinrichtungen und Künstler, egal welchen Hintergrundes, zusammenkommen. "Wir haben dadurch Leute kennengelernt, die unsere Saz-Kurse in den türkischen Gemeinschaften bekannt machen", sagt Gerland.
Statt des großen Geldes setzt er auf viele kleine Ideen: Imageflyer in verschiedenen Sprachen, Kulturscouts, die die einzelnen Communities mit der Musikschule vernetzen. "Wenn man es schafft, hat man eine klassische Win-Win-Situation", ist Gerland überzeugt: In traditionsreichen deutschen Einrichtungen wie Musikschulen wirke eine Öffnung und Erweiterung des Angebots geradezu befreiend. Inspiration durch Integration. Saz-Kurse für alle Interessierten, ähnlich wie Didgeridoo und Dudelsack. Und den Migranten signalisiere dies: Wir sind offen für euch und eure Kultur.