Die Sorgen, die sich Wolfgang Herles um die Demokratie in Deutschland macht, mögen ja zu einem großen Teil berechtigt sein. Die Bürger mögen politikverdrossen und die Politiker bürgerverdrossen, die Parteien anmaßend, der obwaltende Populismus elend sein; die Riege der Politiker mag einem Panoptikum gleichen und sich in wechselseitig begünstigender Patronage gefallen, die Gesellschaft mag versagen, in vielen Dingen des öffentlichen Lebens ein "katastrophaler Bildungsnotstand" herrschen, die Wirtschaftselite arrogant sein. Die Intellektuellen mögen "abtauchen" und alle unter einem "Moses-Komplex" leiden, in dem sie auf den Retter und Löser aller Probleme hoffen - aber was soll so ein selbstgefälliger, defätistischer Furor eigentlich bewirken?
Bücher dieses Zuschnitts mögen sich gut verkaufen, aber sie sind genau Teil des Problems, das sie beschreiben. Sie entstammen dem "Moorbad des Pessimismus", berauschen sich an einem auf anti-politischen Affekten beruhenden Populismus und gefallen sich im Gestus des Verkünders vermeintlicher Wahrheiten. Dabei bedienen und verstärken sie nur die gängigen Klischees und unaufgeklärten Vorurteile, die "unsere Demokratie ruinieren", wie Herles, wohl etwas zu überspannt, schreibt.
Wer sich um die Demokratie in Deutschland sorgt, sollte nüchtern analysieren und Wege aus der Malaise aufzeigen. Für Kassandra-Rufe ist es entschieden zu früh. Die zynische Attitüde des "Dann wählt mal schön" - wobei der Autor dazu animiert, die Stimmzettel ungültig zu machen, um es der "politischen Kaste" einmal so richtig zu zeigen - ist gänzlich fehl am Platz. Herles erweist sich und seinem Anliegen einen Bärendienst.
Ganz anders kommt das Buch von Ulrich Beck daher. In weniger als acht Tagen konzipiert und geschrieben, wie der Autor an anderer Stelle bekannt hat, geht es der Streitschrift weniger um eine Entscheidungshilfe für die Wahl, wie der Titel zunächst nahe legen mag, auch nicht um ein publizistisches Ausschlachten des "Schlamasseldeutschland", von dem auch die Rede ist, sondern es geht Beck um einen Blickwechsel, um Änderungen von Einstellungen, die es Deutschland ermöglichen, wieder "flussaufwärts" zu schauen. Beck will Mut machen, er will den Aufbruch herbeischreiben, den "Stau in den Gedanken" auflösen, der Deutschland lahm legt.
Die Dinge liegen für Beck komplizierter, als es die Programme der Parteien suggerieren. Denn diese sind weitgehend noch befangen in einem Denken, das sich an den alten bundesrepublikanischen "Normalitäten" von Wachstum, Vollbeschäftigung und nationalstaatlicher Souveränität festklammert. Von der Geschichte überholt, machen dennoch alle politischen Kräfte glauben, dass wirtschaftliches Wachstum Arbeitsplätze schaffe und nationale Politik den Weg hierzu bereiten könne. Wo sich die einen als Keynesianer und Sozialstaatsprotektionisten gerieren, unterwerfen sich die anderen, die Neoliberalen, den Zwängen des grenzenlos agierenden Kapitals. Beide aber zeigen ein profundes Unverständnis der Globalisierung.
Für Beck kommt es darauf an, das Land gegen die protektionistischen Reflexe in Partei und Gesellschaft für die Herausforderungen der globalisierten Welt zu öffnen und zugleich das Soziale und Demokratische für Deutschland neu zu begründen. Leicht wird das nicht werden, Beck hat keine Illusionen. Nüchtern stellt er fest: "Auf das Deutschland des Weniger kommt die Erfahrung zu, dass Demokratie frei macht, aber nicht notwendigerweise reich." Und auch die in Deutschland zur Zeit herrschende "kollektive Depression und die innere Zerrissenheit, Orientierungslosigkeit" führt er - auf die wohl zutreffend analysierten - Probleme des Übergangs von einer Gesellschaft des Mehr zu einer Gesellschaft des Weniger zurück. Deutschland muss sich also neu (er)finden. Ob hierzu der Becksche "kosmopolitische Blick" ausreicht?
Die Verwandlung Deutschlands und das Verstehen und Begreifen dieser Verwandlung - so schwierig dieses Vorhaben auch sein mag -, Beck versteht es, in höchst origineller, anregender und zupackender Weise den Leser für diesen neuen Blick auf Deutschland zu gewinnen. Er bedient sich dabei der berühmten Parabel Kafkas über die "Verwandlung" als einer metaphorischen Erzählung über die Krise des deutschen Bewusstseins. So wie Gregor Samsa sich bei Kafka eines Morgens als Käfer verwandelt sieht, der hilflos auf seinem Rücken liegt und mit seinen Beinchen strampelt, so ist Deutschland aus seinem Traum immerwährender Prosperität und sozialstaatlicher Sekurität aufgewacht.
Beide, Samsa und Deutschland, wollen ihre Lage zunächst nicht wahrhaben. Aber so wie es dann Samsa gelingt, auf die Beine zu kommen und sein neues Leben zu leben, so kann es Deutschland gelingen, der "Einkäferung", der "Verwandlungsverweigerung" zu entgehen, den neuen Tatsachen ins Gesicht zu sehen und Freiheit, Demokratie und gesellschaftlichen Zusammenhalt auch unter veränderten Bedingungen zu sichern. Deutschland ist Samsa, so lautet die Becksche Lektion.
Und wehe, wenn sie nicht gelernt wird: "Wer unbeweglich im Bedauern und Betrauern des Verlustes verharrt und deswegen das Neue, das er oder sie auch geworden ist, weder erkundet noch erprobt, wird unerkannt und ungewollt zur Ursache seiner Starre und seiner Schmerzen." Dann droht die fatale Selbstblockade.
Wenn auch ein Gran Skepsis die Lektüre begleiten mag, so tut es doch gut in diesen Zeiten, einen so temperamentvollen Aufklärer wie Beck zu lesen.
Wolfgang Herles
Dann wählt mal schön.
Wie wir unsere Demokratie ruinieren.
Piper Verlag, München 2005, 240 S., 17,90 Euro
Ulrich Beck
Was zur Wahl steht.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 2005; 127 S., 7,- Euro