Die Gemeindeeinrichtungen sind für die Freiheit, was die Volksschulen für die Wissenschaft sind; sie machen sie dem Volke zugänglich; sie wecken in ihm den Geschmack an ihrem freiheitlichen Gebrauch und gewöhnen es daran. Ohne Gemeindeeinrichtungen kann sich ein Volk eine freie Regierung geben, aber den Geist der Freiheit besitzt es nicht." Der junge Adlige aus dem revolutionsgeschundenen Frankreich, der dies niederschrieb, durchreiste 1831/32 zusammen mit einem Freund und Gefährten die noch jungen Vereinigten Staaten von Amerika.
Tocqueville wollte studieren, worum es sich bei dieser amerikanischen Demokratie eigentlich handle. Das Ergebnis dieses Studiums ist eines der herausragendsten Werke der modernen politischen Wissenschaft geworden. Der für das Beobachten und Verstehen sozialer und politischer Erscheinungen hochbegabte Alexis de Tocqueville schrieb mit "Über die Demokratie in Amerika" einen Bestseller. Was er in Amerika ent-deckte und was er in seinem zweiten Werk über die französische Revolution bestätigte und vertiefte, war die Einsicht, dass Demokratien nicht allein das Ergebnis erfolgreicher Revolutionen, sondern bestimmter ziviler Verhaltensmuster sind, zu denen die Verfassung von Gesellschaft und Politik die Bürger erziehen muss.
Das Buch von Karlfriedrich Herb und Oliver Hidalgo über den klugen französischen Adeligen versucht, die Denk- und Lebenswelt dieses herausragenden und noch dazu verständlich schreibenden Theoretikers der Demokratie nachzuzeichnen. Nach einer kurzen Darstellung der Spannung zwischen Gleichheit und Freiheit, die für die meisten Analytiker von Tocquevilles Werk das Zentrum seiner Untersuchungen der amerikanischen Demokratie sei, behandelt das dritte Kapitel die Hauptgedanken des Buches über Amerika. Kapitel 4 gibt einen kurzen Einblick in die politischen Aktivitäten Tocquevilles, das 5. Kapitel behandelt dessen Analyse der Bedingtheit der Französischen Revolution durch geschichtliche Entwicklungen. An ein Kapitel "Liberalismus der neuen Art" schliessen sich eine Kurzdarstellung der Rezeptionsgeschichte und ein Literaturverzeichnis an.
Am 29. Juli 2005 jährte sich der Geburtstag des Alexis de Tocqueville zum 200. Male. So ist es gut, dass man sich über ihn informiert. Als eine Einführung in die Gedankenwelt des ersten Denkers, der die moderne Großflächendemokratie der Vereinigten Staaten von Amerika einer Analyse unterwarf, ist dieses Buch brauchbar, auch wenn die Autoren für den Geschmack des Rezensenten ein wenig mühsam mit der Einordnung Tocquevilles in die Denkschulen der modernen politischen Wissenschaft beschäftigt sind.
Die Frage, ob eine derartige Untersuchung auch den praktischen Politiker (Tocqueville war von 1837 bis zum Putsch von Napoleon III. aktiver Parlamentarier, nach 1848 sogar kurze Zeit Aussenminister) umfassen soll, muss anlässlich dieses Buches allerdings gestellt werden. Wenn man die bürgerlich-politischen Aktivitäten Tocquevilles tatsächlich in einer Einführung behandelt, kann man dies nicht wie Herb und Hidalgo locker über die Probleme hinweghuschend und unter Aussparung des in der Tat äußerst problematischen Teils seines politischen Handelns tun.
Tocqueville war davon überzeugt, dass das Zentrum seines politischen Wirkens die Algerien-Frage war. Er war eine der Hauptfiguren in den stürmischen Debatten der französischen Nationalversammlung um die Eroberung Algeriens. Er hat zu diesem Bereich mehrere Abhandlungen geschrieben; er ist der Kopf mehrerer Parlamentskommissionen und Verfasser ihrer Berichte. Tocqueville hat im Parlament mehrmals zu Algerien geredet.
Die Autoren erwecken in einer Fußnote (S.87) den Eindruck, die einschlägigen Dokumente, zumindest die Notizen einer Reise durch Algerien, seien verloren gegangen. Dies ist irreführend. Beträchtliche Fragmente sind in der Pléijade-Ausgabe der Werke, die eigenartigerweise bei Herb/Hidalgo gar nicht erwähnt oder bibliographiert ist, veröffentlicht. Der dritte Band der vollständigen Werke veröffentlicht zudem auf über 300 Seiten Dokumente zur Algerien-Politik Tocquevilles, die von Herb/Hidalgo ignoriert werden. Die Autoren reden nur von einem Reisebericht, der im fünften Band veröffentlicht ist.
Kein Wunder also, dass die gesamte Algerien-Frage im Buch nicht behandelt wird. Diese ist nicht ohne Bedeutung. Im Gegensatz zu seinen besonders im Amerika-Buch entwickelten Gedanken bürgerlicher Gleichheit hat Alexis de Tocqueville die Eroberung Algeriens sowie die Unterwerfung der Völker dieses Landstriches ebenso befürwortet wie die dann ja von Frankreich geschaffene Gesellschaftsordnung: Das Land beherrschende, besitzende, regierende und verwaltende Europäer, denen die "Eingeborenen" als Ungleiche dienten.
Bei Herb/Hidalgo liest sich das so: "Sogar Tocquevilles imperialistische Vorstellungen korrespondieren bei näherem Hinsehen einer Überzeugung, die er schon in seinem Amerikabuch äußert. Gemeint ist das Vertrauen in die Überlegenheit der christlichen gegenüber der islamischen oder hinduistischen Kultur. Die Eroberung Asiens und Afrikas durch das christliche Abendland scheint unter dieser Prämisse wenig problematisch."
Problematisch scheint mir an dieser Aussage einmal, ob es das "christliche" Abendland war, das da eroberte oder nicht vielmehr ein aus den Fugen geratenes nicht mehr christliches Europa; zum anderen aber ist es eine flotte Konklusion zu meinen, wer überlegen sei, dürfe auch erobern. Vielleicht liegt hier - man kann offen lassen, ob dies nur für die Autoren oder auch für Tocqueville gilt - eine problematische Gleichsetzung von Liberalismus und Darwinismus vor.
Karlfriedrich Herb / Oliver Hidalgo
Alexis de Tocqueville.
Campus Verlag, Frankfurt/New York 2005; 176 S., 12,90 Euro