Arbeit im 21. Jahrhundert" - das Motto des Vormittags hört sich nach den unvermeidlichen Dauerbrennern vom "Sabine Christiansen"-Deutschland an: Lohnnebenkosten runter, Flexibilisierung, längere Lebensarbeitszeit, Kündigungsschutz lockern. Doch gerade sind Franz Müntefering und DGB-Chef Sommer, die zu der Vorpremiere des Film "Working Man's Death" ins schummrige Delphi-Kino am Berliner Bahnhof Zoo geladen haben, mit etwas anderem konfrontiert worden: Elend, Arbeit als Lebensgefahr, Selbstausbeutung. Und für die Dauer einer Kinovorstellung entsteht der alte Schulterschluss zwischen Sozialdemokratie und Gewerkschaftsbewegung. Veranstaltungen wie diese hier bringen ja keine Stimmen - aber haben politische Symbolik: SPD und DGB wieder Seit' an Seit'. Und dann das Thema: Arbeit und Ausbeutung - es sind beeindruckende und in einigen Sequenzen unerträgliche Bilder, die Dokumetarfilmer Pepe Danquardt in Nigeria, in der Ukraine, in Indonesien und Pakistan gedreht hat. Es geht um die härtesten Arbeitsbedingungen der Welt und manche lassen sich wie eine Parodie auf die liberale Parole von der Freiheit zur "Eigeninitiative" lesen: diese Schattengestalten haben eine Freiheit, wie sie Janis Joplin einmal definiert hat: "Freedom is, when you have nothing left to loose."
Wo Danquardt gedreht hat, wartet das sozialdemokratische Jahrhundert darauf zu beginnen. Wahrscheinlich vergeblich. In der anschließenden Diskussion, versucht der SPD-Chef den Bogen zur aktuellen Lage in Deutschland zu spannen und gleichzeitig Wahlkampfpunkte zu sammeln: "Ne' Menge Menschen" würden unter schweren Bedingung arbeiten, aber zähle nicht auch der deutsche "LKW-Fahrer unter Zeitdruck" dazu, gejagt vom billigeren rumänischen Konkurrenten? Lohnmäßig könne man nicht mit der der Dritten Welt oder sogar Rumänien mithalten, sagt er. Und dabei schwingt der leise Zweifel mit, dass weder die Sozialdemokraten ebenso noch die Parteien im bürgerlichen Lager ein Patentrezept auf die drängenden Fragen der Globalisierung geben können. Auch wenn man die Verwerfungen der Globalisierung nicht bekämpfen kann, so haben sich die Sozialdemokraten den Kampf für die soziale Gerechtigkeit im eigenen Land auf ihre Wahlplakate schreiben lassen. "Deutschland soll sich entscheiden", heißt es im Wahlmanifest der Partei. Auf ihrem Wahlparteitag am letzten Augusttag in Berlin verabschiedet die Partei dann auch einen Wahlaufruf, in dem von einer Richtungsentscheidung die Rede ist. Schröder stehe für eine Politik des Mutes, des Fortschritts und der sozialen Gerechtigkeit. An diesem Sommertag bahnt sich der Bundeskanzler mit Parteichef Müntefering den Weg durch ein Meer von roten T-Shirts bis zur Rednerbühne - erstmal wird das Jackett ausgezogen. Und jetzt scheint der Parteichef - allen Unkenrufen zum Trotz - nochmal alles zu geben: Vor allem eine gehörige Portion Zuversicht. Die Parteibasis nimmt sie dankbar auf. Von einer Abschiedsrede, wie Schröders Kritiker zuvor bissig frohlockt hatten, ist auf dem Mini-Parteitag nichts zu spüren. Mit dem politischen Gegner geht Schröder hart ins Gericht. Die Politik von Union und FDP führe in eine "Ellenbogengesellschaft", so der Kanzler, in der "Neid, Missgunst und Egoismus das Zusammenleben mehr und mehr bestimmen würden". Über den grünen Partner, mit dem die Sozialdemokraten seit sieben Jahren koalieren, sagt Schröder kaum ein Wort und auch eine Koalitionsaussage zugunsten der Grünen findet sich in dem Wahlaufruf nicht. Polarisierung ist angesagt und so beschäftigt sich Schröder in seiner Rede mit dem politischen Gegner aus dem bürgerlichen Lager. Markige Worte findet Schröder für den Steuerexperten Paul Kirchhof, Finanzfachmann und Merkels-Trumpfkarte in ihrem Wahlkampfteam: "Wenn ich dann diesen Professor aus Heidelberg höre, wie er sich verbreitet, dass die Rente wie die KFZ-Versicherung behandelt werden kann, dann wird darin ein Menschenbild deutlich, das wir bekämpfen müssen. Menschen sind keine Sachen." Die Abkehr vom Sozialstaat ist sein Thema. Und so warnt er fast schon ein wenig beschwörend: "Die Politik von CDU und CSU setzt auf die Spaltung in Deutschland in wenige Gewinner, aber sehr viele Verlierer." Für die Linkspartei, die noch vor wenigen Wochen als linkes Schreckensgespenst in Erscheinung trat, hat der Kanzler nur ein paar verächtlich klingende Worte übrig. Oskar Lafontaine und Gregor Gysi hätten in ihrer politischen Laufbahn vor allem eines deutlich gemacht: "Dass sie die Klamotten hinschmeißen, wenn es eng wird", sagt er mit trotziger Zuversicht. Statt vor der roten Konkurrenz zu zittern, setzt der Kanzler in Sachen Linkspartei.PDS offenbar auf den Faktor Zeit und hofft, dass deren Umfragewerte weiter sinken. Schröder gibt den Genossen das gute Gefühl, dass die Wahl noch nicht entschieden, alles möglich sei: "Lasst Euch nicht ins Bockshorn jagen, auch diese Wahl wird in den letzten Tagen entschieden", ruft er in den Saal des Tagungshotels. Er und seine Anhänger setzen ihre Hoffnung darauf, dass viele Wähler noch unentschieden seien.
Und als kenne er keine Zweifel, bringt es Schröder auf die knackige Formel: "Die anderen sollen die Umfragen gewinnen - ich die Wahlen." Die über 520 Parteitagsdelegierten danken ihm die kämpferische Rede. Sie zollen ihm zwölf Minuten Standing-Ovations und versetzen mit rythmischen "Jetzt-Gehts-Los"-Sprechchören den Saal in Schwingung.
Einige Tage zuvor in Hannover schien der Bundeskanzler, wie schon 2002, die außenpolitische Karte ziehen zu wollen. Schröder präsentierte sich in Hannover als Vertreter einer, so wörtlich, "Friedensmacht Deutschland". "Deutsche Außen- und Sicherheitspolitik", so rief der Kanzler der Menge zu, "wird in Berlin entschieden, und nirgendwo anders." An dieser Stelle brandet, wenn der Kanzler auf deutschen Marktplätzen spricht, zwar immer noch regelmäßig Applaus auf, doch ist die außenpolitische Karte kein Joker - der Wahlkampf 2005 wird mit innenpolitischen Themen entschieden und dabei setzt die Partei ganz auf die Beliebtheit des Kanzlers.
Ihr Wahlmanifest hat die Partei mit dem Titel "Vertrauen in Deutschland" überschrieben. Die SPD möchte eine "Reichensteuer" einführen, einen Zuschlag in Höhe von drei Prozent zahlen Ledige auf Einkommen ab 250.000 Euro Jahreseinkommen, Verheirate sollen ab einem Einkommen von über 500.000 Euro einen Zuschlag auf die Einkommenssteuer entrichten. Das Geld soll in Bildung, Forschung und Zukunftstechnologien investiert werden. Die Steuer auf große private Erbschaften soll "sozial gerecht" verändert werden, das Steuerrecht vereinfacht und Steuersubventionen sowie Steuervergünstigungen weiter abgebaut werden. Die Zuschläge für Sonntags-, Nacht- und Feiertagsarbeit will die SPD unangetastet lassen. Besonderes Augenmerk legt die Partei in diesem Wahlkampf auf die Familienpolitik. Neben dem weiteren Ausbau der Betreuungsmöglichkeiten soll jungen Müttern - und Vätern - nach der Geburt eines Kindes ein Jahr lang ein Elterngeld garantiert werden. Damit soll der Lohnausfall während der frühen Erziehungsphase ausgeglichen werden.
Im Delphi-Kino ist die Veranstaltung inzwischen zuende. Das Bündnis der SPD mit dem DGB, zustande gekommen für die Dauer einer Filmvorführung, wirkt ein wenig wie aus einer anderen Zeit. Man versichert sich der eigenen Geschichte und was man alles erreicht hat und dass das alles irgendwie auch heute noch eine Bedeutung haben sollte. Als Müntefering in die Sonne heraustritt, kann er ein Plakat der SPD sehen. "Wir erhalten den Kündigungsschutz" steht darauf. Jemand hat darunter mit schwarzem Filzstift gekritzelt: "Seit neustem". Für ihr Reformprogramm "Agenda 2010", das Bundeskanzler Schröder im März 2003 vorgestellt hatte, war die SPD auch in den eigenen Reihen kritisiert worden. Insbesondere die Hartz- IV-Reform, die Zusammenlegung von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe hatte die Partei Sympathiepunkte gekostet. Beim großen Tempo der Reformen blieb nicht immer genügend Zeit für die notwendige Überzeugungsarbeit - sowohl nach innen als auch nach außen. Für Bundeskanzler Schröder ist die "Agenda 2010" jedoch weiterhin die einzig richtige Antwort auf die Globalisierung und das Älterwerden der Gesellschaft. Er ist überzeugt, dass die Reformen langfristig greifen werden. Beim Endspurt bis zur Bundestagswahl am 18. September vertraut die SPD auf das Prinzip Hoffnung und die Popularität ihres Spitzenkandidaten. Bei der letzten Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen Ende August liegt Schröder mit fünf Punkten vor seiner Herausforderin Angela Merkel.
Schröder scheint im Endspurt des Wahlkampfes seine Form gefunden zu haben. Zuversichtlich sieht der Bundeskanzler daher auch dem Fernsehduell mit Spitzenkandidatin der Union entgegen. Nachdem es ihm auf dem Parteitag in Berlin gelungen ist, seinen Anhängern Mut zu machen und die Seele der Partei anzusprechen, will er jetzt die Wähler im Land vor den Fernsehschirmen für sich gewinnen - getreu dem Motto das Franz Müntefering am Ende des Parteitags ausgegeben hatte: "Nun geht hinaus und sagt's den Menschen."