Ein paar Minuten sind nach dem Moment X vergangen. Der TV-Techniker, der mit einer Packung Kabel in der Hand in die gigantische Bildschirm-, Kamera- und Mikrofonperformance auf dem Flur vor dem Eingang zum Plenarsaal eilt, stutzt ganz unvermittelt und sagt verwundert zu den Umstehenden: "Das ist ja so eine gedrückte Stimmung hier!"
Die Wahrnehmung des fleißigen Helfers kommt nicht von ungefähr. Überall werden die fiebrig erwarteten 18-Uhr-Prognosen von ARD und ZDF, die völlig diffuse Mehrheitsverhältnisse andeuten, mit erstauntem Stöhnen zur Kenntnis genommen. Und dann breitet sich in dieser Ecke des Reichstags, die an diesem Abend zum Nervenzentrum der Republik werden sollte, erst einmal Stille aus. Für eine Weile tuscheln Journalisten, deren Mitarbeiter und die eintrudelnden Politiker nur noch in gedämpfter Zimmerlautstärke miteinander. Bis spät in die Nacht wird die seltsame Mischung aus kribbelnder Spannung und aus einem Gefühl der Ungewissheit und Ratlosigkeit nicht weichen - ein Indiz für das Verwirrspiel des Machtkampfs in den nächsten Tagen und Wochen.
In der drangvollen Enge der zusammengepferchten Studios geht es zwischen Talkrunden und dem Hin- und Hergeschiebe der großen und kleinen Promis von Interview zu Interview geschäftig, ja hektisch zu. Der DGB-Vorsitzende Michael Sommer etwa sieht sich bei fast jedem Schritt mit neuen Kameras und Mikrofonen konfrontiert. Doch eine Frage steht auch nach unzähligen Statements vielen ins Gesicht geschrieben: Was nun? Sommer zieht sich übrigens in Sachen Koalitionspräferenz stets mit der Bemerkung aus der Affäre, er arbeite "mit jeder Regierung zusammen, die sich an Arbeitnehmerinteressen orientiert".
Nach Schließung der Wahllokale mutiert der Reichstag zum Thermometer für ein ungewohntes politisches Klima, für eine gesellschaftliche Wetterlage, die Politiker, Medien und auch Bürger bislang nicht kannten: Eine Regierung wird an den Urnen abberufen, aber eine neue wird nicht gewählt. Da muss selbst die erste Riege der hauptstädtischen TV-Kommentatoren erst einmal rätseln. Vor den nächsten Auftritten steckt man die Köpfe zusammen, vielleicht hat ja der Kollege einen klugen Gedanken: "Unglaublich", "Das gibt es nicht". Volker Jacobs schlendert Pfeife rauchend über einen Flur: Man kann dem Berlin-Korrespondenten von n-tv förmlich ansehen, wie er über seinem nächsten Beitrag grübelt.
Altmeister Friedrich Nowottny, wie die anderen Fernseh-Stars im allgemeinen Getümmel an improvisierten Schminktischen abgetupft und zurechtgemacht, wird am Phönix-Stand dauerinterviewt. Er vermag den gordischen Analyseknoten aber auch nicht durchzuschlagen. Eine junge Frau aus der vielköpfigen Entourage des Medientrosses gewinnt dem Ganzen indes vor allem etwas Aufregendes ab: "Das ist doch besser, als wenn um 18 Uhr gleich alles entschieden ist", meint sie zu den Hochrechnungsbalken auf den Bildschirmen. In der Cafeteria, wo Bockwürste, Bouletten und Sandwichs irgendwann ausverkauft sind, sitzen die Leute vor Biergläsern und Aschenbechern, starren auf zwei Fernseher mit den ARD- und ZDF-Programmen und kritzeln Ziffernkombinationen mit Prozent- und Sitzzahlen auf Notizblätter. Zu einem plausiblen Resultat gelangt freilich niemand.
Was für ein Abend, unerwartet, denkwürdig, irritierend. Sitzungen des Bundestags locken immer Journalisten an, mal mehr, mal weniger, je nach aktueller politischer Fieberkurve. Einen solchen Ansturm hat der Reichstag jedoch noch nie erlebt. Fast 3.000 Journalisten und technische Mitarbeiter aus über 40 Nationen wuseln herum. Beim arte-Studio parliert das Team vor der Sendung miteinander auf französisch. Öfter dringen russische, türkische und andere fremde Sprachfetzen ins Ohr. Zwischen "heute" und "Tagesschau" fragt im Hin und Her ein Reporter des russischen Fernsehens auf Deutsch mit heimischem Akzent plötzlich einen Bundestagsangestellten, ob man vielleicht im Plenarsaal drehen dürfe - nun, man darf nicht.
Ein regelrechtes Medien-Heerlager hat sich im Regierungsviertel breit gemacht. Übertragungswagen, Satellitenschüsseln und Werbebanner der einzelnen Sender stehen dicht an dicht. Nachmittags mutet manche Ansammlung der TV-High-Tech-Trucker wie eine Art Campingplatz an: Auf den Treppenstufen dieser Caravans oder auf Klappstühlen sitzt so mancher, um sich bei einem Kaffee und einer Zigarette vor der Minute X um 18 Uhr noch ein wenig zu entspannen. Eine ARD-Großbildleinwand auf der Wiese vor dem Haupteingang zeigt vor allerlei Laufpublikum einen Porträtfilm über Angela Merkel mit der fast prophetischen Botschaft, die CDU-Kanzlerkandidatin sei "im Vorhof der Macht angekommen". Sat.1 hat auf der Dachterrasse ein kleines Studio aufgebaut. Auf der Ebene vor den Fraktionssälen lässt sich N24-Moderator Michel Friedman schminken.
Über die Spree tuckern Ausflugsschiffe mit offenem Deck, gebannt starren deren Gäste unter dem Blinzeln der Sonne auf den Trubel rund um den Reichstag und lassen eifrig die Kameras für Erinnerungsfotos klicken. Das tun drinnen selbst einige Helfer der TV-Teams, die ihren Stand samt Kollegen knipsen: Es wabert schon etwas Historisches über diesem Augenblick. Auf der Wiese telefoniert in bestem pfälzischen Dialekt ein Berlin-Besucher per Handy ganz aufgeregt den Sachstand an die Seinen zu Hause in der Provinz durch: "Was do los is, was do für Ü-Wage sinn, das glaubscht du net!"
Die Show der Medien: So darf man diesen Wahlabend im Reichstag wohl nennen. Im Kern aber stimmt das so nicht. Der Parlamentskomplex dient vielmehr als exzellente Bühne für die Inszenierung der - gelegentlich auch komplizierten - Symbiose von Medien- und Politikbetrieb. Diese innige Verflechtung prägt die Landschaft nicht erst seit heute. Aber so konzentriert wie dieses Mal lassen sich die Verästelungen und Mechanismen dieses eigentümlichen Netzwerks selten beobachten. Die einen benötigen die andern, ohne die andern wären die einen nichts: Auf engstem Raum präsentiert sich eine geballte Ladung der so genannten Berliner Republik.
Und noch etwas entpuppt sich in aller Klarheit: Zu den Medienfreaks und zur Politikergarde gesellen sich als Dritte im Bunde die Demoskopen. Im ZDF-Wahlstudio blättern vor Sendebeginn nicht nur Bettina Schausten und Steffen Seibert in ihren Papieren: Hinter ihren Pulten und Laptops wirkt die Truppe der Forschungsgruppe Wahlen so angespannt wie eine Fußballmannschaft in der Kabine vorm Auflaufen ins Stadion. Prognosen, dann eine Hochrechnung nach der andern, für Stunden werden diese Ziffern mit ihren Schwankungen hinter dem Komma zum Unterfutter aller Interpretationen und Spekulationen. "Ich kenne bislang nur die ARD-Zahlen, was sagt denn das ZDF?", klagt um 19.15 Uhr Michael Sommer beim Gedrängel zum nächsten Interview.
Alle wollen mitspielen. Einer, der früh da ist und unverdrossen gern in Kameras blickt und redet, ist Hans-Olaf Henkel, Ex-BDI-Chef. Zum Inventar gehört auch der Sozialethiker Friedhelm Hengsbach. Bundesweit über die Bildschirme flimmern und mithin richtig gut rauskommen können an diesem Abend auch Politiker, die sich gemeinhin nicht auf den ersten Rängen tummeln. Beim Hessischen Rundfunk werden die Gäste vor dem sinnigen Schriftzug "Vipshow" gelöchert. Gewissermaßen in Schüben erhöht sich der Grad der Prominenz. Zuerst tauchen Leute auf wie Wolfgang Tiefensee, Leipzigs SPD-Oberbürgermeister, Dagmar Enkelmann von der Brandenburger Linkspartei oder Rainer Eppelmann, Dagmar Schipanski und Günther Nooke von der CDU.
Bis dahin läuft es auf den schmalen Pfaden zwischen den vielen Studios noch einigermaßen überschaubar und geordnet ab. Nun aber treffen einige Ministerpräsidenten ein, und von da an gibt es für zwei, drei Stunden kein Halten mehr. Matthias Platzeck ("Mal sehen, was wird"), Roland Koch, der nichts Genaues nicht sagen will. So halten es auch Dieter Althaus und Jürgen Rüttgers: Auf allen Kanälen erklären die Länderfürsten so ziemlich das Gleiche. Aber darauf kommt es nicht an: Die Sender brauchen unbedingt bedeutsame Gesichter auf ihren Bildschirmen.
Auf den wenigen Metern von Stand zu Stand fuchteln Reporter mit ihren Kameras und Mikrofonen förmlich vor den Promis herum. Manche Helfer der Polit-Größen halten auf Zetteln einen auf Minuten fixierten Zeitplan für die einzelnen Besuche bei den diversen Sendern in der Hand, doch das wird rasch zur Makulatur. Einmal stolpert jemand, weil ein Journalist im Eifer des Gefechts auf dem Flur ein Kabel hinter sich herzieht. Einem Radiomenschen vom WDR gelingt es, Rüttgers einige Minuten für ein Hörfunkgespräch zu ergattern. Nur einer hat seine Ruhe: In einer Ecke steht im Kreis von Getreuen der Landesfürst von Baden-Württemberg, Günther Oettinger, und wartet brav auf seinen abgesprochenen Auftritt.
In der nächsten Runde erscheint Bundesprominenz. Krista Sager und Katrin Göring-Eckardt, die grünen Fraktionsvorsitzenden, schieben sich herein. Dann sind auch zügig die Minister Jürgen Trittin und Renate Künast präsent. Letztere ist schnell von der Medienmeute umringt. "Fragen Sie mich nicht nach Personen", antwortet die Grüne vielsagend-nichtssagend auf die Frage, ob sie sich zusammen mit Guido Wes-terwelle am Kabinettstisch vorstellen könne. Im Übrigen gehe sie jetzt erst einmal "gestärkt auf unser Fest". Das tut sie freilich nicht: Zu fortgeschrittener Stunde ist Künast immer noch da und plaudert, ein Eis am Stiel in der Hand, mit dem Journalisten Friedrich Küppersbusch.
Kurz vor der "Tagesschau" laufen sich Krista Sager und Gregor Gysi von der Linkspartei über den Weg, man schüttelt sich in der Eile lächelnd kurz die Hand, "Glückwunsch", "Glückwunsch auch". Oskar Lafontaine lässt sich ebenfalls blicken, natürlich ist der Saarländer sehr begehrt. Schon etwas abgekämpft will er von seinem Begleiter wissen. "Wo gehen wir denn jetzt hin" - "da müssen wir durch", antwortet dieser, "dahinten zu n-tv".
Gerhard Schröder, Angela Merkel, Edmund Stoiber, Joschka Fischer und Guido Westerwelle stürzen sich nicht ins Getümmel unter der Kuppel. Sie geben sich bei der "Berliner Runde" von ARD und ZDF die Ehre. Vor allem aber haben sie ihre Auftritte in den Parteizentralen: Der dortige Beifall, bei SPD, FDP und Linkspartei besonders stark, hallt via Bildschirm auch durch den Reichstag. In dessen Atmosphäre von Verunsicherung und Ungewissheit, die vom hektischen Getue nicht verdrängt wird, mutet die pralle Freude auf den anderen Berliner Schauplätzen des Wahlkrimis leicht unwirklich, fast befremdlich an.
Schuld an diesen Kontrasten ist jemand, der sich am 18. September als Mitspieler verweigert hat: der Stimmbürger. Der Wähler hat dem Trio aus Medien, Politikbetrieb und Demoskopen einen kräftigen Strich durch die Rechnung gemacht. Im Parlamentsgebäude dünnen sich die Reihen der politischen Prominenz denn bald aus: Was soll man auch schon sagen, wo angesichts der sperrigen Prozentzahlen nichts Handfestes zu sagen ist? Irgendwann interviewen sich manche Journalisten gegenseitig. Einer, den man nicht lange bitten muss, ist Focus-Chef Helmut Markwort.
Im Laufe des Abends schwindet auch das Interesse an den Hochrechnungen. Stattdessen herrscht Zulauf an einem zuvor wenig beachteten Info-Stand, den Bundeswahlleiter Johann Hahlen hat errichten lassen: Dort zeigen Computer den Auszählungsstand in den 16 Ländern an, dort kann man sich an Laptops bis in einzelne Wahlkreise durchklicken, dort outet sich tatsächlich der Wählerwille. Es kommt ja auf jedes Direkt-, auf jedes Überhangmandat an.
Draußen in der Dunkelheit verfolgt eine überschaubare Schar von Neugierigen die ARD-Übertragung auf der Großbildleinwand. Die Stimmung auf der Wiese erscheint so durchwachsen wie drinnen. Kaum jemand applaudiert, kaum jemand äußert Unmut. Der spektakuläre Zoff in der "Berliner Runde" zwischen Bundeskanzler Gerhard Schröder und ZDF-Chefredakteur und Moderator Nikolaus Brender löst beim Publikum gebremste Heiterkeit mit leisem Lachen und Kichern aus. Ein paar Schritte weiter steht auf der Treppe auch zu dieser späten Stunde noch eine große Schlange von Menschen: Denen ist der nächtliche Blick von der Reichstagskuppel über die Hauptstadtdächer offenbar wichtiger als die Wahlberichterstattung im Fernsehen.